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Begriff und Erscheinungsformen.

Die Abbildung zeigt symbolhaft Reichsbuerger-Paesse, Reichsadler und Reichsbuerger-Nummernschild.

Erscheinungsformen

„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen – unter anderem unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren und deshalb die Besorgnis besteht, dass sie Verstöße gegen die Rechtsordnung begehen.

Beispiel: „Königreich Deutschland“

Die Gruppierung „Königreich Deutschland“ (KRD) wurde laut „Gründungsurkunde“ im September 2012 in Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt) gegründet. Das KRD versteht sich als „völkerrechtskonformer neuer deutscher Staat“. Der der Gruppierung vorstehende selbsternannte „König von Deutschland“ bewirbt das KRD dahingehend, dass man in seinem „Königreich“ keine Steuern zahlen müsse. Diese Behauptung ist deshalb irreführend, da der Beitritt zum KRD nicht von einer Steuerabgabepflicht in der Bundesrepublik Deutschland befreit.

Das KRD betreibt unter anderem sogenannte „Gemeinwohlkassen“ (GK). Ihrem Internetauftritt zufolge steht die GK für ein „neues, dauerhaft stabiles, unabhängiges und zinsfreies Geld- und Finanzwesen zum Wohle der Menschen“. Mithilfe einer „Rendite bringenden Beteiligung“ würden Anleger Projekte des KRD im Sinne des „Gemeinwohls“ fördern.

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) untersagte den Betreibern der „Gemeinwohlkassen“ im Jahr 2021 die Anbahnung, den Abschluss und die Abwicklung der Bank- und Versicherungsgeschäfte. Im Februar 2023 setzte die BaFin die Schließung von drei „Repräsentanzen“ der „GemeinwohlKasse“ des KRD zwangsweise durch.

Anfang des Jahres 2022 konnte das KRD zwei Anwesen in Sachsen erwerben. Die Gruppierung beabsichtigt dort autarke Strukturen zu errichten und ein eigenverwaltetes „Staatsgebiet“ entstehen zu lassen.

Nach entsprechenden Grundstücken und Immobilien für die sogenannten Gemeinwohldörfer sucht das KRD bereits seit Längerem. Zu ihrer Finanzierung wird vehement um Einzahler geworben. Interessenten werden aufgefordert, Kapitalüberlassungsverträge zu unterzeichnen oder das Geld unmittelbar an den jeweiligen Verkäufer der Grundstücke zu zahlen. Eine finanzielle Schädigung der Einzahlenden ist zu befürchten.

Innerhalb der Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ ist nur ein kleinerer Teil dem Rechtsextremismus zuzurechnen; rechtsextremistische Ideologieelemente sind bei der Mehrheit der Szeneangehörigen nur gering ausgeprägt. Dessen ungeachtet begünstigen die verschwörungstheoretischen Grundzüge in der Argumentation des Personenspektrums eine Anschlussfähigkeit an antisemitische Erklärungsmuster, die auch im Phänomenbereich Rechtsextremismus eine wichtige Rolle spielen. Die Bandbreite antisemitischer Einstellungen und Äußerungen unter „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ reicht dabei von Schuldzuweisungen Einzelner, die „die Juden“ für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich machen, über offen antisemitische sowie durch Codes und Chiffren transportierte Verschwörungstheorien, wonach zum Beispiel der Erste Weltkrieg von „den Juden“ geplant worden sei, bis hin zur Leugnung des Holocaust.

Im Kern der Ideologie der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ steht jedoch die fundamentale Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Rechtsordnung.

Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ ist schwierig: „Reichsbürger“ berufen sich hinsichtlich des Staatsgebiets und des Rechtsstandes auf ein wie auch immer geartetes „Deutsches Reich“ und lehnen deshalb die Bundesrepublik Deutschland ab. „Selbstverwalter“ hingegen nehmen für sich in Anspruch, aus dem Staat „austreten“ zu können, und reklamieren dabei für sich rechtliche und territoriale Autonomie. Es existieren auch Mischformen.

Strategien

Insgesamt nutzt die Szene vielfältige Vorgehensweisen, um ihre Ansichten zu verbreiten, eigene Interessen durchzusetzen und staatliches Handeln zu erschweren. Ihr Vorgehen ist regelmäßig von bewussten Provokationen geprägt.

picture alliance/dpa | Paul Zinken

Um behördliche und rechtsstaatliche Abläufe zu stören, richten „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ etwa oftmals seitenlange Schreiben an staatliche Stellen und suchen die Konfrontation mit diesen. Die darin enthaltenen Ausführungen reichen von der einfachen Ablehnung behördlichen Handelns bis hin zu Erpressungen, Beleidigungen oder Nötigungen, teilweise mit erheblichen Gewaltandrohungen.

Vielfach werden auch Ausweisdokumente der Bundesrepublik Deutschland als unwirksam abgelehnt. Teile des Spektrums propagieren stattdessen die Beantragung des in der Szene als „Gelber Schein“ bezeichneten Staatsangehörigkeitsausweises. Hierbei handelt es sich um ein amtliches Dokument der Bundesrepublik Deutschland, mit dem der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit dokumentiert wird, wobei den Antrag auf Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit in der Regel im Ausland lebende Personen stellen, bei denen aus historischen oder persönlichen Gründen zweifelhaft ist, ob sie deutsche Staatsangehörige sind.

Auf der anderen Seite hat die Herstellung und der Vertrieb von eigenen Fantasiedokumenten sowie das Verändern von Kfz-Kennzeichen - als Ausdruck der bewussten Lossagung vom deutschen Staat nach außen - unter „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ eine weite Verbreitung gefunden.

Beispiel: „Geeinte deutsche Völker und Stämme“

Ein Beispiel für die strategische Ausrichtung und das Gefährdungspotenzial der Szene stellt die Gruppierung „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ (GdVuSt) dar, die gemeinsam mit ihrer Teilorganisation „Osnabrücker Landmark“ am 19. März 2020 durch den damaligen Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat als erste Vereinigung aus dem Spektrum der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ auf Bundesebene verboten und aufgelöst wurde. Das bestandskräftige Verbot wurde mit schweren Verstößen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus begründet.

Die GdVuSt fiel in den Jahren zuvor durch zahlreiche, unter anderem an Behörden und Ämter gerichtete Schreiben mit aggressiver Ausdrucksweise und teils drastischen Drohungen auf. Diese umfassten etwa die „Inhaftierungen“ der Adressaten oder die Erhebung hoher „Strafgebühren“. So kündigte ein Mitglied der Vereinigung in einem Schreiben an das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf in Berlin etwa die „Eigentumsübernahme“ des Rathauses Steglitz an: „Mit jeder Überschreitung Ihrer Rechte nach Erhebung der Hoheitsgebiete Steglitz, Lichterfelde und Schöneberg sowie alle Weiteren in der Landschaft Berlin und Brandenburg, werden wir auch Sie, [Name genannt], außerhalb Ihrer handelsrechtlich wirkenden Haftungssicherung privat enteignen und in die Sippenhaftung stellen […].“ Die GdVuSt leugnete zudem die Legitimität der als „Handelskonstrukt“ bezeichneten Bundesrepublik Deutschland und strebte ein eigenes „naturstaatliches“ Rechtssystem an. Auch sind durch Veröffentlichungen der Vereinigung Grundrechtsverletzungen, insbesondere der Menschenwürde, verbrieft.

Trotz des Verbots setzten die GdVuSt (Geeinte deutsche Völker und Stämme) ihre Aktivitäten fort. Die maßgebliche Funktionärin der Vereinigung bot bis zu ihrer Verhaftung Anfang Mai 2022 weiterhin kostenpflichtige Seminare und Vortragsveranstaltungen an.

Außerdem wurden zahlreiche Schreiben an Behörden bekannt, in denen sie im Namen der GdVuSt die „Erhebung naturstaatlicher Landschaften“ proklamiert. Hiermit ist die Deklarierung zu einem Gebiet gemeint, in dem die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht gültig sein soll.

Im Mai 2022 erfolgten im Zusammenhang mit verschiedenen Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen das Vereinigungsverbot Exekutivmaßnahmen in mehreren Bundesländern. Am 22. November verurteilte das Landgericht Lüneburg die maßgebliche Führungsperson zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten.

„Reichsbürger" und „Selbstverwalter" beteiligen sich weiterhin auch an den vielfältigen Protesten und Demonstrationen mit Bezug zur Coronapandemie, ohne jedoch dabei prägend in Erscheinung zu treten. Die Pandemie wurde durch Angehörige der Szene fortwährend zur Verbreitung ihrer Propaganda und Desinformation auch im Internet genutzt. Staatliche Maßnahmen — auch ohne Bezug zur Coronapandemie – wurden im Spektrum häufig als unrechtmäßig dargestellt. Gleichfalls ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar 2022 ein wichtiges Thema in den einschlägigen sozialen Kanälen von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“. „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ nehmen hier eine eher prorussische Position ein. Im Rahmen des Demonstrationsgeschehens mit Bezug zum Russland-Ukraine-Krieg sind regelmäßig auch einzelne „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ festzustellen, ohne dass diese aber besonders in Erscheinung treten.

Gewalt und Militanz

Das Gefährdungspotenzial durch die Waffenaffinität in der Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ besteht weiterhin. Die teils erheblichen Waffenfunde im Zuge von Exekutivmaßnahmen belegen diese Neigung.

Die Sicherheitsbehörden sind deshalb bestrebt, auf den Entzug sämtlicher waffenrechtlicher Erlaubnisse bei Szeneangehörigen hinzuwirken beziehungsweise zu verhindern, dass eine solche überhaupt erst bewilligt wird. Mitunter ist auch mit illegaler Bewaffnung von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ zu rechnen.

Das verworrene Weltbild vieler „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ und die Renitenz, mit der daran festgehalten wird, führt nicht selten dazu, dass als „illegitim“ empfundene Exekutivmaßnahmen gegen Szeneangehörige eine Abwehrhaltung provozieren, die sich in Aggressionen und Gefahrensituationen bis hin zu schwersten Gewalttaten manifestieren kann. Der nicht unerhebliche Anteil von Widerstandsdelikten an den durch Szeneangehörige verübten Straftaten belegt dieses Potenzial. Lässt sich im Nachgang von staatlichen Maßnahmen bei betroffenen Personen teilweise eine vorübergehende Zurückhaltung feststellen, so findet eine dauerhafte Lossagung von der Szene zumeist nicht statt.