Begriff und Erscheinungsformen.
Mit Beginn der Coronapandemie und der Durchsetzung staatlicher Beschränkungsmaßnahmen zu ihrer Bekämpfung kam es in Deutschland zu einer breiten gesellschaftspolitischen Debatte und legitimen Protestaktionen.
In einigen Fällen gingen öffentlich geäußerte Meinungen oder Aktionen jedoch über einen solchen legitimen Protest hinaus und überschritten auf diese Weise die Grenze zu tatsächlichen Anhaltspunkten für verfassungsfeindliche Bestrebungen.
Das BfV hat daher den Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet. Die diesem Phänomenbereich zugeordneten Akteure zielen darauf ab, das Vertrauen in das staatliche System zu erschüttern und dessen Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen. Dies versuchen sie zu erreichen, indem sie unter anderem
- demokratisch gewählte Repräsentanten des Staates verächtlich machen,
- staatlichen Institutionen und ihren Vertretern die Legitimität absprechen,
- zum Ignorieren gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen aufrufen,
- staatliche oder öffentliche Institutionen (zum Beispiel der Gesundheitsfürsorge) mittels Sachbeschädigungen sabotieren oder
- zu Widerstandshandlungen gegen die staatliche Ordnung aufrufen.
Diese Verhaltensweisen stehen im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratie- oder dem Rechtsstaatsprinzip.
Ideologie
Die personelle Zusammensetzung des Delegitimierungsspektrums ist heterogen und wird teilweise durch regionale Besonderheiten geprägt. Verbindendes Element der unterschiedlichen Gruppen und Personen ist die kategorische Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung, die als untauglich und undemokratisch angesehen wird.
Zum Teil wird die Bundesrepublik Deutschland mit den diktatorischen Regimen des Nationalsozialismus und der DDR gleichgesetzt.
In der Szene werden zudem Verschwörungstheorien verbreitet, in denen die fundamentale Ablehnung des Staates und seiner Repräsentanten zutage tritt. Diese Erzählungen sind häufig von antisemitischen Ressentiments geprägt, womit auch eine Brücke zu Rechtsextremisten sowie „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ geschlagen wird.
Anhänger dieser Verschwörungstheorien unterstellen einem zumeist als Elite bezeichneten Personenkreis wahrheitswidrig einen „Geheimplan“ zu Lasten des Volkes. Sie suggerieren, dieser von einer breiten Öffentlichkeit unbemerkte Plan diene ausschließlich den elitären Eigeninteressen und schädige in hohem Maße die übrige Bevölkerung.
Verschwörungstheoretiker propagieren unentwegt Scheinbelege für ihre Unterstellungen. In ihrer geschlossenen verschwörungstheoretischen Filterblase immunisieren sie sich gegen jedwede Fakten, die ihre ideologischen Positionen relativieren oder gar widerlegen könnten. Im Zusammenhang mit der Coronapandemie wurden insbesondere Verschwörungstheorien mit Bezug auf die Initiative „Great Reset“ des Weltwirtschaftsforums (WEF) aus dem Jahr 2020 verbreitet. Das Ziel der WEF-Initiative war es grundsätzlich, die Pandemie auch als Chance für wirtschaftliche Reformen und Änderungen zu begreifen und dazu entsprechende Maßnahmen vorzuschlagen. Verschwörungstheoretische Interpretationen sehen im „Great Reset“ dagegen ein groß angelegtes Projekt der globalen Polit- oder Wirtschaftselite, traditionelle gesellschaftliche Strukturen zu zerstören und eine sogenannte „Weltregierung“ zu errichten.
In unterschiedlichen Deutungen wurde die Impfung gegen das Sars-Cov2-Virus zudem als „Zwangsimpfung“ dargestellt. Mitunter wird immer noch behauptet, mit dieser sei ein Mikrochip zur Überwachung eingepflanzt worden. Die Impfung in Verbindung mit einer Entrechtung von ungeimpften Personen habe schließlich zur Errichtung eines globalen Überwachungsregimes führen sollen.
Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Coronapandemie wurden bisweilen stark antisemitisch aufgeladen, indem verbreitet wurde, Juden nutzten die Pandemie als Vorwand, um eine „Neue Weltordnung“ zu etablieren. Die „Zwangsimpfung“ beziehungsweise der vermeintlich injizierte Mikrochip diene beispielsweise dem Zweck, Menschen wehrlos der „Neuen Weltordnung“ auszuliefern. Ein Feindbild im Rahmen verfassungsschutzrelevanter Corona-Proteste stellte insbesondere auch die Polizei dar. Durch deren Schmähung als Vollzugsorgan einer vermeintlichen „Corona-Diktatur“ sollte Gewalt gegen Polizeikräfte zum legitimen Widerstandsakt stilisiert und die Hemmschwelle hierfür sukzessive abgesenkt werden.
Die so ausgelöste Eskalation der Proteste und das vorsätzliche Provozieren polizeilicher Repressionsmaßnahmen sollten wiederholt das Bild eines rigoros agierenden Unrechtsstaates vermitteln und Solidarisierungseffekte in der Bevölkerung auslösen. Dies wurde insbesondere durch eine verzerrende und einseitige Darstellung von Polizeieinsätzen im Rahmen des Demonstrationsgeschehens bis hin zur bewussten Verbreitung von Falschmeldungen in Sozialen Medien und im Internet verstärkt.
Einschüchterung von Politikern
Seit Beginn der Pandemie sahen sich Politikerinnen und Politiker zunehmend Einschüchterungsversuchen und Bedrohungen ausgesetzt.
Angehörige des Delegitimierungs-Spektrums haben beispielsweise mehrfach versucht, Politiker in deren privatem Umfeld konfrontativ aufzusuchen. Solche „Hausbesuche“ wurden seit Herbst 2021 zeitweilig zu einer gängigen Praxis in der Szene. Einschüchternde Demonstrationen fanden in direkter Nähe der Wohnsitze von Kommunal-, Landes- und Bundespolitikern statt oder wurden kurz vorher gestoppt. Statt der Wahrnehmung des Demonstrationsrechts ging es den Teilnehmenden solcher „Hausbesuche“ vornehmlich darum, gegenüber Politikerinnen und Politikern eine teils martialische – etwa durch das Verwenden von Fackeln und Trommeln sowie das Skandieren aggressiver Parolen – Drohkulisse aufzubauen.
Zudem äußern sich Personen im Internet zustimmend zu Gewalt- und gar Tötungsszenarien mit Blick auf Politiker oder prominente Vertreter aus Wissenschaft und Wirtschaft. Insbesondere in den sozialen Medien und in Messenger-Diensten sind Mord- und Gewaltfantasien gegen Entscheidungsträger an der Tagesordnung. Teilweise wurden in einigen Gruppen bereits Schritte zur Realisierung solcher Pläne oder gar eines „Systemsturzes“ diskutiert. Dabei ist – insbesondere in den Sozialen Medien – ein stetes Absinken der verbalen Hemmschwelle festzustellen. Solche gewaltlegitimierenden Diskurse beruhen im Spektrum der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ auf einem fragmentierten und wenig konsistenten Konglomerat ideologischer Versatzstücke.
Instrumentalisierung von Krisen
Durch das Wegfallen der staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im April 2023 entfiel die Coronapandemie nahezu vollständig als Mobilisierungsthema.
Als Reaktion auf diese Entwicklung setzte daraufhin innerhalb des Delegitimierungsspektrums ein Diskurs über mögliche neue, mobilisierungsfähige Themen ein. In diesem Kontext wurden unter anderem die Agitation gegen staatliche Klimaschutzmaßnahmen oder die Debatte über die wirtschaftlichen und politischen Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine als mögliche neue Schwerpunktthemen diskutiert.
Bei den Protesten gegen Inflation und Energiekrise infolge des Krieges erreichten Akteure des Phänomenbereichs im weiteren Verlauf des Jahres aber zu keinem Zeitpunkt eine vergleichbare Resonanz wie bei dem Demonstrationsgeschehen im Kontext der Coronapandemie.
Gleiches gilt für Versuche, sich als Akteure einer „neuen Friedensbewegung“ zu inszenieren. Das Demonstrationsgeschehen verblieb meist auf sehr niedrigem Niveau.