Verfassung schützen.
Ist es heutzutage selbstverständlich, seine Meinung offen sagen zu können? Seine Religion auszuüben, ohne Repressionen zu fürchten? Friedlich zu demonstrieren? Sich offen zu seiner individuellen sexuellen Orientierung zu äußern und nach dieser leben zu können? Unter demokratischen Bedingungen zu wählen? Sich über eine unabhängige Presseberichterstattung informieren zu können? Einen Beruf seiner Wahl auszuüben? Wirklich frei zu sein?
In vielen Ländern der Welt ist dies bedauerlicherweise keineswegs der Fall. Die Anzahl tatsächlich freiheitlich-demokratischer Gesellschaften auf der Welt, so ein sich erhärtender Eindruck, scheint zu schwinden.
Umso wichtiger ist es, für unsere pluralistische Gesellschaftsform einzustehen, sie zu respektieren, durch staatliche Strukturen zu stärken und sie zu schützen, wo sie durch verfassungsfeindliche Bestrebungen angegriffen wird oder unterminiert zu werden droht.
Verfassungsschutz: Mahnung und Auftrag
In Deutschland haben wir erlebt, wie mit der Weimarer Republik die erste Demokratie von den rechten und linken politischen Rändern verachtet und bekämpft wurde und letztlich an ihrer Wehrlosigkeit zugrunde ging. So wurde der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft der Weg bereitet, die in der Folge ein menschenverachtendes staatliches System etablierte, Verbrechen beging, die in der Geschichte ohne Beispiel sind und einen Krieg anzettelte, der Millionen Menschen das Leben kostete, ein Land in Trümmern zurückließ und zu einer Teilung Deutschlands führte. Auch nach dem Krieg mussten Millionen Deutsche in der ehemaligen DDR noch viele Jahrzehnte auf eine Demokratie verzichten.
Die Arbeit im Parlamentarischen Rat im Jahr 1948/49 war dann auch geprägt von dem Geist, dass das Grundgesetz nicht nur ein Gegenentwurf zur Weimarer Reichsverfassung, sondern auch eine Mahnung und Lehre aus der Geschichte sein sollte. Nie wieder sollte von deutschem Boden ein Krieg und eine Gewaltherrschaft ausgehen. Und so ist unser Grundgesetz die Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates, der mit seinen europäischen und außereuropäischen Nachbarn friedlich zusammenleben möchte.
Überdies adressiert das Grundgesetz aber auch einen Auftrag und einen Appell an Staat und Zivilgesellschaft. Eine freiheitliche Gesellschaft lebt auch von der Grundüberzeugung der Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, aktiv für Demokratie und Menschenwürde einzutreten. Sie muss aber auch durch den Staat und seine Institutionen gewährleistet und geschützt werden, wo ihre obersten und durch die Verfassung garantierten Werteprinzipien zur Disposition gestellt werden.
So bezeichnet dann auch das Bundesverfassungsgericht das politische System der Bundesrepublik Deutschland als streitbare, wehrhafte Demokratie.
Rechtlicher Rahmen
Die Entscheidung, mit dem Grundgesetz eine wertgebundene, wachsame und wehrhafte Demokratie zu schaffen und ein umfassendes Verfassungsschutzsystem zu implementieren, findet auch ihren Niederschlag in den Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz sammelt nach § 3 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) gemeinsam mit den Landesbehörden für Verfassungsschutz Informationen über
(1) Bestrebungen, die
- gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder
- gegen den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder
- durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder
- gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind,
(2) geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht (Spionageabwehr)
und wertet diese aus.
Ferner wirkt das Bundesamt für Verfassungsschutz nach § 3 Abs. 2 BVerfSchG beim Geheim- und Sabotageschutz mit.
Das BVerfSchG gibt den Kernbestand der Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden in den Ländern vor. Der darin normierte Aufgabenbereich darf durch die Landesgesetze für Verfassungsschutz nicht eingeschränkt werden.
Auf der Grundlage dieser Vorgaben regeln die Länder jedoch Aufgaben, Arbeitsweisen und Befugnisse der Landesverfassungsschutzbehörden in eigener Zuständigkeit. So unterstützen etwa einige Verfassungsschutzbehörden in den Ländern über den Aufgabenkatalog im BVerfSchG hinaus das Handeln von Politik, Polizei, weiteren staatlichen Einrichtungen und anderen öffentlichen Stellen, indem sie Erkenntnisse über Gefahren, die z.B. von der Organisierten Kriminalität ausgehen, zur Verfügung stellen.
Freiheitliche demokratische Grundordnung
Ein wesentlicher Aufgabenschwerpunkt des Verfassungsschutzes im Bund und in den Ländern ist die Beobachtung von Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) gerichtet sind. Mit der fdGO als unbestimmtem Rechtsbegriff ist dabei nicht die Verfassung bzw. das Grundgesetz in seiner Gesamtheit gemeint, sondern die unabänderlichen obersten Wertprinzipien als Kernbestand unseres demokratischen Systems.
Verfassungsschutzgesetze im Bund und in den Ländern
Was konkret zählt aber zu dieser unabänderlichen Kernstruktur unseres Gemeinwesens? In den Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder ist der Begriff der fdGO im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) und wissenschaftlichen Literatur näher ausgeführt worden.
Nach § 4 Abs. 2 BVerfSchG zählen zu den fundamentalen Wertprinzipien
- das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen,
- die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht,
- das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition,
- die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung,
- die Unabhängigkeit der Gerichte,
- der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und
- die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte.
Inhaltlich überwiegend deckungsgleiche Begriffsbestimmungen finden sich auch in den Landesverfassungsschutzgesetzen.
Urteil des BVerfG im Jahr 2017 ("NPD-Verbot")
Im Urteil zum Verfahren über das Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) im Januar 2017 hat das BVerfG den Begriff der fdGO weitergehend präzisiert. Im Zentrum stehen für das Gericht die Würde des Menschen, das Demokratieprinzip und des Rechtsstaatsprinzip.
Ein Auszug des Urteils im Wortlaut (BVerfGE 144, 20-367 Ls. 3) :
"Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne von
Art. 21
Abs. 2 GG umfasst nur jene zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind.
a) Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (
Art. 1
Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit.
b) Ferner ist das Demokratieprinzip konstitutiver Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Unverzichtbar für ein demokratisches System sind die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (
Art. 20
Abs. 1 und 2 GG).
c) Für den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind schließlich die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt (
Art. 20
Abs. 3 GG) und die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte bestimmend. Zugleich erfordert die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Einzelnen, dass die Anwendung physischer Gewalt den gebundenen und gerichtlicher Kontrolle unterliegenden staatlichen Organen vorbehalten ist."
Das BVerfG stellte mit diesem Urteil klar, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht mit der verfassungsmäßigen Ordnung in ihrer Gesamtheit gleichzusetzen ist, vielmehr erfordere der Begriff der fdGO eine Konzentration auf wenige, zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind.
Radikalismus vs. Extremismus
In einem lebendigen demokratischen Diskurs haben auch radikale Ansichten ihren Platz. Tatsächlich ist es legitim, seiner Meinung darüber Ausdruck zu verleihen, dass man etwa die Demokratie für die falsche Staatsform hält oder den Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsform und die soziale Marktwirtschaft als wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Leitbild für verfehlt hält. Das Grundgesetz kennt nur die Pflicht zur Gesetzestreue, nicht aber eine Werteloyalität. Eine Ausnahme bilden hier Personen, die in einem Richter-, Soldaten- oder Beamtenverhältnis stehen und eine Pflicht zu mit der Verfassung konformen Meinungen und Überzeugungen haben.
Radikale Ansichten kritischer Bürgerinnen und Bürger geben dem Verfassungsschutz keinen Anlass, aktiv zu werden. Sie fallen unter die Meinungsfreiheit, sind Ausdruck politischer Teilhabe und somit von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung geschützt.
Eine Verfassungsschutzrelevanz ergibt sich immer dann, wenn die Grenze von einer radikalen Meinung hin zu einer extremistischen Bestrebung überschritten wird, also Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden, welche auf eine Beeinträchtigung oder Beseitigung des staatlichen Grundgefüges hinauslaufen. Agieren Einzelpersonen oder Gruppen gegen die fdGO, planen gar vor dem Hintergrund extremistischer Überzeugungen Anschläge, so ist es die vordringlichste Aufgabe des Verfassungsschutzes, - offen oder verdeckt - Informationen hierüber zu beschaffen und auszuwerten, um diese an die zuständigen Stellen weiterzuleiten und eine wirkungsvolle Gefahrenabwehr zu ermöglichen.
Der Verfassungsschutz wird bereits dann tätig, wenn die Polizei noch nicht zuständig ist. Er ist daher das effektive Frühwarnsystem zum Schutz vor Beeinträchtigungen für unser demokratisches Gemeinwesen.