Islamismus und islamistischer Terrorismus.
Personenpotenzial
Insgesamt ergibt sich für das Jahr 2023 aus den Zahlenangaben ein im Vergleich zum Vorjahr annähernd gleichbleibendes Islamismuspotenzial von 27.200 Personen (2022: 27.480).
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Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus
Die Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland sowie für deutsche Interessen und Einrichtungen weltweit besteht fort und hat sich seit dem terroristischen Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden militärischen Auseinandersetzungen im Gazastreifen weiter erhöht. Die Bedrohung in Deutschland geht sowohl von jihadistisch motivierten Einzeltätern als auch von jihadistischen Gruppierungen aus. Neben den in den vergangenen Jahren dominierenden weniger komplexen Anschlägen auf vornehmlich „weiche“ Ziele ist weiter auch mit komplexeren Anschlagsvorhaben zu rechnen.
Im Jahr 2023 kam es in Deutschland zu einem gesichert islamistisch motivierten Anschlag: ein und derselbe Täter griff am 9. und am 18. April 2023 in Duisburg (Nordrhein-Westfalen) Menschen mit einem Messer an, ein Mensch wurde getötet, vier weitere teils lebensgefährlich verletzt. Der Täter reklamierte für sich, im Auftrag des „Islamischen Staates“ (IS) gehandelt zu haben.
Auch in anderen europäischen Staaten kam es zu Anschlägen, bei denen die Täter sich durch den IS beauftragt sahen: am 13. Oktober 2023 wurde in Arras (Frankreich) ein Lehrer erstochen, am 16. Oktober 2023 wurden in Brüssel (Belgien) zwei schwedische Fußballfans erschossen sowie ein weiterer schwer verletzt und am 2. Dezember 2023 griff ein IS-Sympathisant in Paris (Frankreich) mehrere Personen mit einem Messer und einem Hammer an und tötete dabei einen deutschen Staatsangehörigen.
Die beiden letztgenannten Anschläge werden direkt mit erneuerten und expliziten Aufforderungen des IS in Verbindung gebracht, Anschläge im Westen zu verüben. Ebenso die Festnahme von zwei Jugendlichen am 28. November 2023, die als potenzielles Anschlagsziel einen Weihnachtsmarkt in Leverkusen (Nordrhein-Westfalen) in Betracht gezogen hatten.
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Islamistische Terrororganisationen
Die Anschläge und auch die im Jahr 2023 durch deutsche und europäische Sicherheitsbehörden vereitelten Anschlagspläne sind ein klarer Beleg dafür, dass die jihadistische Ideologie nach wie vor präsent ist. Europa, und damit auch Deutschland, stehen weiterhin und verstärkt im Fokus terroristisch-jihadistischer Organisationen, vor allem des IS, aber auch von „al-Qaida“. Mit der Verbreitung von Terror, sowohl durch Anschläge von Einzeltätern als auch durch groß angelegte, koordinierte Terroranschläge wie in der Vergangenheit, zielen diese global agierenden terroristischen Netzwerke auf die Schwächung ihrer Gegner und die Durchsetzung ihres jihadistisch motivierten Herrschaftsanspruchs ab.
Der ISPK („Islamischer Staat Provinz Khorasan“) scheint derzeit der stärkste IS-Regionalableger zu sein. Nachdem der ISPK bisher vor allem die Durchführung von Anschlägen in Afghanistan forcierte, mehren sich die Anhaltspunkte dafür, dass nunmehr auch Deutschland und Europa als potenzielle Anschlagsziele in Betracht gezogen werden. Dies würde aus Sicht des ISPK dessen Ansehen unter seinen Anhängern erhöhen und zugleich die Ordnungsmacht der „Taleban“ in Afghanistan infrage stellen und diese vermehrt unter internationalen Druck setzen.
Dass dabei auch Deutschland im Zielspektrum des ISPK steht, zeigen die Exekutivmaßnahmen im Juli 2023. Bei den Tatverdächtigen handelt es sich um Staatsangehörige verschiedener zentralasiatischer Staaten, die im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Frühjahr 2022 fast zeitgleich aus der Ukraine nach Deutschland eingereist sind. Sie stehen im Verdacht, sich zu einer terroristischen Vereinigung zusammengeschlossen zu haben mit dem Ziel, in Deutschland öffentlichkeitswirksame Anschläge durchzuführen.
Deutschsprachige jihadistische Propaganda
Seit dem Angriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 nahm die Lage im Nahen Osten in der deutschsprachigen Szene einen großen Raum ein. Veröffentlicht wurden fast durchweg antisemitische Texte und Videos, die neben Solidaritätsbekundungen und Unterstützungsaufrufen auch Kommentare beinhalteten, die die vermeintliche „Rückeroberung Palästinas“ begrüßten und das Töten von Juden glorifizierten.
Ein weiterer Themenschwerpunkt in der deutschen Unterstützerszene waren die mehrfachen Verbrennungen von Koranexemplaren durch unterschiedliche Akteure in Nordeuropa. Die sich im Verlauf des Jahres wiederholenden Koranverbrennungen durch islamfeindliche Personen riefen zahlreiche Reaktionen islamistischer beziehungsweise jihadistischer Gruppierungen und ihrer Unterstützerszene hervor.
Ähnlich zur internationalen Propaganda erinnert auch „al-Qaida“-nahe deutschsprachige Propaganda an die Anschläge vom 11. September 2001 mit heroisierenden Beiträgen. Zahlreiche Postings mit Bildern, Videos, Nashids und glorifizierenden Kommentaren verdeutlichen die nach wie vor inspirierende Wirkung des damaligen Ereignisses auf jihadistische Kreise.
Zunehmend war und ist weiterhin zu beobachten, dass Propagandainhalte insbesondere auf der Plattform TikTok durch die Verwendung von Stickern, Disclaimern oder durch die Einbettung in Memes als vermeintlich harmlos dargestellt werden. Dabei kann der eigentliche islamistische Inhalt in den Hintergrund treten und somit verschleiert werden. Mit diesem strategischen Verhalten gelingt es den Nutzern, jihadistische sowie gewaltbefürwortende Inhalte zu verbreiten und sich gleichzeitig vor einer plattformseitigen Löschung zu schützen.
Salafismus
Mit rund 10.500 Anhängern bleibt der Salafismus zahlenmäßig an der Spitze der islamistischen Strömungen in Deutschland. Obwohl das salafistische Personenpotenzial in den letzten Jahren leicht zurückging, nahmen Aktivitäten der salafistischen Szene im Jahr 2023 wieder zu, auch im Internet. Bewährte Aktionsformen wurden wieder aufgegriffen und neue initiiert. Während die Kernideologie ohne Veränderungen fortbesteht, vollzieht sich insbesondere im Hinblick auf Social-Media-Kommunikation und die Mobilisierung durch populistische und identitätsbetonende Diskurse ein Wandel. Salafistische Influencer erzielen insbesondere auf TikTok hohe Reichweiten.
„Hizb ut-Tahrir“-nahe Gruppierungen
Gruppierungen mit ideologischer Nähe zur „Hizb ut-Tahrir“ (HuT), wie „Realität Islam“ (RI), „Generation Islam“ (GI) oder „Muslim Interaktiv“ (MI), haben ihre professionell orchestrierten und online verwerteten Auftritte nach dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 noch einmal intensiviert und treten bei der Inszenierung ihrer Aktionen und in ihrer Wortwahl zunehmend aggressiv und extremistisch auf. Sie docken an identitätspolitische Diskurse an, etwa indem sie islamistisches Agieren mit „kolonialer Unterdrückung der islamischen Welt“ rechtfertigen. Außerdem behaupten sie eine staatlich gesteuerte Islamfeindlichkeit und diffamieren die deutsche Integrationspolitik als eine Art „Assimilationsterror“, der die Muslime in ihrer Gesamtheit zu Opfern systematischer Diskriminierung durch Staat und Gesellschaft mache.
Feindbild LGBTQ
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, wie sie in pluralistischen Gesellschaften eingefordert und gelebt wird, insbesondere Homosexualität und Transidentität, wird von allen islamistischen Ideologien mehr oder weniger explizit abgelehnt. Vor allem salafistische Geistliche haben sich ausdrücklich gegen die als „Unzuchtsverbrechen“ gebrandmarkte, ausgelebte Homosexualität positioniert. Für das Jahr 2023 hervorzuheben sind die massiven Anfeindungen, denen Muslime, die sich LGBTQ-offen zeigten, ausgesetzt waren.
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Antisemitismus im Islamismus
Antisemitisches Gedankengut bildet einen wesentlichen gemeinsamen Nenner in der Ideologie des gesamten islamistischen Spektrums und ist weit darüber hinaus anschlussfähig. Wie die Reaktionen auf die Lage im Nahen Osten seit dem terroristischen Angriff der HAMAS auf Israel im Oktober 2023 zeigen, gehen Feindschaft gegenüber jüdischen Menschen und Feindschaft gegenüber Israel inzwischen fast untrennbar Hand in Hand. Die islamistische Propaganda fördert nicht nur antisemitisches Gedankengut, sie fordert dazu auf, den Gedanken auch Taten folgen zu lassen.
HAMAS-Verbot
Mit dem am 2. November 2023 durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) ausgesprochenen Betätigungsverbot sind fortan sämtliche Aktivitäten für die HAMAS in Deutschland verboten. In diesem Zusammenhang wurden am 23. November 2023 Durchsuchungsmaßnahmen in fünf Bundesländern (Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein) durchgeführt.
Am 14. Dezember 2023 wurden vier mutmaßliche HAMAS-Mitglieder in Berlin und den Niederlanden festgenommen. Diese sollen sich auch an Auslandsoperationen der HAMAS beteiligt und über eine enge Anbindung an die Führung der militärischen Unterorganisation der HAMAS, den „Izz-al-Din-al-Qassam-Brigaden“, verfügt haben und in mögliche Anschlagspläne gegen jüdische Ziele in Europa verwickelt gewesen sein.
Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung
Die Instrumentalisierung von Konflikten und Kriegen für Terrorismus- und Extremismusfinanzierung unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit ist gestiegen. So konnten im Zuge des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine, der Erdbeben in der Türkei und in Syrien sowie im Hinblick auf die Situation im Gazastreifen vermehrt Spendenaufrufe oder Finanztransfers, die mit islamistischen oder terroristischen Organisationen in Verbindung stehen, identifiziert werden.
Die sich verändernden aktuellen Risikolagen und -aspekte sowie die dynamischen Entwicklungen im Bereich der Finanzierungsaktivitäten erfordern kontinuierlichen und intensiven Informations- und Erfahrungsaustausch sowie eine entsprechende Koordinierung der Sicherheitsbehörden. Nationale und internationale Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus- und Extremismusfinanzierung greifen dabei ineinander und bilden einen ganzheitlichen Ansatz.
Im Mai 2023 wurden in mehreren deutschen Bundesländern und in den Niederlanden zeitgleich insgesamt circa 100 Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt und sieben Beschuldigte festgenommen. Die Maßnahmen standen im Zusammenhang mit Ermittlungen zu Online-Spendenprojekten für Frauen und Kinder von ehemaligen IS-Kämpfern, die in syrisch-kurdischen Camps inhaftiert sind.