Die Zentralstelle.
Der Verfassungsschutz ist in der Bundesrepublik Deutschland als eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Bundesländern organisiert (siehe Themenbereich Föderale Aufgabenteilung). Sowohl der Bund als auch jedes Bundesland verfügen über eine entsprechende Behörde für Verfassungsschutz.
Gleichwohl heißt es in § 5 Abs. 4 BVerfSchG, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die Landesbehörden für Verfassungsschutz als Zentralstelle bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt. Wie passt das zusammen?
Föderale Aufgabenteilung vs. Zentralstelle
Der Umstand, dass die Aufgabe des Verfassungsschutzes gesetzlich auf den Bund und die Bundesländer übertragen wurde, stellt hohe Ansprüche an die Organisation der Arbeitsabläufe. Dies umso mehr, als dass das Bundesamt gegenüber den Landesbehörden für Verfassungsschutz über keine Weisungsrechte verfügt. Alle 17 Verfassungsschutzbehörden sind eigenständig und damit auch eigenverantwortlich für die Erledigung ihres gesetzlichen Auftrags.
Es würde jedoch der Konzeption des Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt grundlegend widersprechen, wenn jede Behörde für sich selbst durchgehend individuelle Regeln aufstellen, eigene Technik entwickeln, eigene Fortbildungen anbieten oder gar relevante Erkenntnisse vorhalten würde, ohne diese mit den anderen Behörden zu teilen.
Es ist also kein Widerspruch, sondern vielmehr eine Handlungsmaxime, die Arbeitsabläufe innerhalb des Verfassungsschutzverbundes zu harmonisieren: Und so braucht es ein einheitliches Datenverarbeitungssystem (NADIS-WN) und eine aufeinander abgestimmte Vorgehensweise in der Bearbeitung der verschiedenen Phänomenbereiche. Dies wiederum setzt verbindliche Abstimmungen, Vereinbarungen und gemeinsame Beschlüsse etwa über Aufklärungsziele etc. voraus.
Die federführende Koordinierung dieser wichtigen organisatorischen und die gemeinsame Kommunikation betreffenden Aufgaben übernimmt das Bundesamt für Verfassungsschutz als Zentralstelle.
Entwicklung der Zentralstellenfunktion
Die Bedrohungslage für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland hat sich innerhalb der letzten Jahrzehnte verschärft (siehe auch den Themenbereich zur Geschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz). Wir haben es mit vielfältigen Herausforderungen auf allen Gebieten des politischen und religiösen Extremismus sowie der Spionage und Sabotage zu tun und eine zielgerichtete und effektive Aufklärung wird nicht zuletzt durch die weiter voranschreitende Digitalisierung für den Verfassungsschutz immer komplizierter.
Die Fähigkeit, auf dynamische Veränderungen in den jeweiligen Phänomenbereichen auch mit einer Anpassung und Weiterentwicklung der eigenen Arbeitsabläufe reagieren zu können, ist dabei nicht nur eine Stärke des Verfassungsschutzes, sie stellt schlichtweg eine Notwendigkeit dar.
Reform des BVerfSchG im Jahr 2015
Auch mit Blick darauf hat der Bundesgesetzgeber im Jahr 2015 im Zuge der Aufarbeitung der Aktivitäten der rechtsterroristischen Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) eine noch engere und praxiskonformere Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden im BVerfSchG festgeschrieben und dabei die Zentralstellenfunktion des Bundesamtes deutlich gestärkt.
Für ein verbessertes Zusammenwirken der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern wurden folgende Regelungen implementiert:
- Das Bundesamt erhält eine moderierende Koordinierungsaufgabe (§ 5 Abs. 3 BVerfSchG).
- Zur Stärkung der Zentralstellenfunktion darf das Bundesamt im Benehmen mit dem jeweiligen Land eigenständig auch lediglich lokale, aber gewaltorientierte Bestrebungen beobachten (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 BVerfSchG). Die Regelung hat Auffangfunktion, um etwaige Beobachtungslücken in diesem gefährlichen Bereich auszuschließen. Zuständigkeit und Verantwortlichkeit der Länder bleiben unberührt.
- Weiterhin unterstützt das Bundesamt die Landesämter für Verfassungsschutz durch gebündelte, zentrale Dienste (§ 5 Abs. 4 BVerfSchG).
Zentralstellenfunktion in der Praxis
Mag der Begriff der Zentralstelle zunächst etwas "sperrig" erscheinen, so hat er doch ganz konkrete praktische Implikationen für die tägliche Arbeit des Verfassungsschutzes im Bund und in den Ländern.
Anhand der nachstehenden Beispiele soll daher noch einmal verdeutlicht werden, wie die Zentralstellenfunktion im Verfassungsschutzverbund "gelebt" wird:
Beispiel: Nachrichtendienstliches Informationssystem und Wissensnetz
Nicht erst mit der Novelle des BVerfSchG im Jahr 2015 hat der Verfassungsschutz auf Bundesebene vielfältige Zentralstellenaufgaben wahrgenommen, um die Arbeit des Verfassungsschutzverbundes insgesamt zu unterstützen.
Stellvertretend hierfür steht etwa das Nachrichtendienstliche Informationssystem und Wissensnetz, kurz NADIS-WN, welches durch das Bundesamt für Verfassungsschutz administriert wird und dem gesamten Verfassungsschutzverbund zur Verfügung steht, um die notwendigen und gesetzlich vorgesehenen Speicherungen und Verknüpfungen der gewonnenen und ausgewerteten Informationen vorzunehmen.
Beispiel: Koordinierung der Arbeitsschwerpunkte
In einem föderalen Bundesstaat sieht sich jede Region mitunter mit unterschiedlichen Gefahren für die innere Sicherheit konfrontiert. Um zu einer einheitlichen Auffassung über die jeweiligen Arbeitsschwerpunkte zu kommen, müssen zwischen den Verfassungsschutzämtern entsprechende Absprachegrundlagen erarbeitet werden - eine zentrale Aufgabe des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
Beispiel: Erforschung und Entwicklung von Methoden und Arbeitsweisen
Die Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung agieren verzweigt und sind doch gut vernetzt. Hierauf muss der Verfassungsschutzverbund Antworten finden und Analysemethoden entwickeln, um dem Gegner einen Schritt voraus zu sein. Ein Verfassungsschutz, in dem jede Behörde für sich arbeitet und auf eigenen Entwicklungen und Fortschritten bei der Arbeitsmethodik beharrt, kann nicht erfolgreich agieren. Das Bundesamt hat daher die Zentralstellenfunktion bei der Erforschung und Entwicklung neuer Arbeitsmethoden inne. Hierunter fallen vor allem neue Entwicklungen bei der Auswertung sehr komplexer Sachverhalte auch mittels hochmoderner Informations- und Kommunikationstechnik.
Beispiel: Fortbildung
Nur gut geschultes und qualifiziertes Personal kann den hohen Anforderungen, welche die Arbeit im Verfassungsschutz erfordert, gerecht werden. Hierunter sind nicht nur die zwingend erforderlichen rechtlichen Aus- und Fortbildungen zu verstehen. Auch Methodikunterricht und das Erlernen neuer Analysetools, aber auch die Arbeit in der Informationsbeschaffung, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, muss in einem kooperativ agierenden Verfassungsschutzverbund homogen entwickelt werden. Hier kommt dem Bundesamt als Zentralstelle eine wichtige Rolle zu.