Brüche und Kontinuitäten im islamistischen Terrorismus und Extremismus.
Mit den Anschlägen von New York und Washington am 11. September 2001 gelangte der global orientierte jihadistische Terrorismus schlagartig in den Vordergrund der weltweiten öffentlichen Wahrnehmung. Zwar hatte sich die Terrororganisation „al-Qaida“ schon früher zu schweren Anschlägen bekannt, insbesondere 1998 zu den Anschlägen auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam. Erst der Terror von 2001 verdeutlichte jedoch die neue Dimension der Gefährdung, der sich die westliche Staatengemeinschaft und ihre Verbündeten ausgesetzt sahen.
Wenige Wochen nach den Anschlägen begann nach Ausrufung des NATO-Bündnisfalls der US-geführte Militäreinsatz in Afghanistan, der im Sommer 2021 nach fast 20 Jahren mit dem Rückzug der Truppen beendet wurde. Die Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus besteht auch zwei Jahrzehnte nach den Anschlägen vom 11. September 2001 fort. Zugleich wirkten sich tiefgreifende Ereignisse und Brüche maßgeblich auf die Lageentwicklung aus.
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Bedeutungsgewinn von „al-Qaida“ im globalen Jihadismus ab 2001
Bis heute geht vom globalen Jihadismus mit seinem Anspruch, die eigene Islaminterpretation auch mit gewaltsamen Mitteln über die ganze Welt zu verbreiten, die größte islamistische Gefährdung aus. Das hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland.
Hatte man in den Tagen nach den Anschlägen noch kurzzeitig palästinensische Gruppen verdächtigt, gelangte die Selbstbezeichnung „al-Qaida“ der verantwortlichen Terrororganisation schnell zu globaler Bekanntheit. Das Konterfei von Usama Bin Ladin prägte sich in das öffentliche Bewusstsein ein. „Al-Qaida“ behauptete den weltweiten Führungsanspruch im global orientierten Jihadismus, mit diesem bisher opferreichsten Terroranschlag.
Das Modell „al-Qaida“ war zunächst sehr erfolgreich: Lokal operierende Gruppierungen bekundeten ihre Loyalität zu „al-Qaida“ und wurden unter dieser „Marke“ zu regionalen Ablegern.
Reaktion der deutschen Szene: Jihadistisch motivierte Ausreisen
Der erstarkende Jihadismus entwickelte eine große Anziehungskraft auf die deutsche Szene. Im Herbst 2007 wurden die Mitglieder der „Sauerlandgruppe“ festgenommen. Ihnen wurde vorgeworfen, Anschläge gegen US-amerikanische Einrichtungen in Deutschland vorbereitet zu haben. Dabei sollen sie im Auftrag der „Islamischen Jihad Union“ (IJU) gehandelt haben, einer vor allem in Afghanistan aktiven militant-islamistischen Gruppierung, die mit den „Taleban“ kooperierte und Verbindungen zu „al-Qaida“ unterhalten haben soll. Die Mitglieder der „Sauerlandgruppe“ hatten zuvor ein Ausbildungslager im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet besucht und im Anschluss an ihre Rückkehr nach Deutschland mit Anschlagsplanungen begonnen. Die Gruppenmitglieder wurden später zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Eine relevante Zahl jihadistisch motivierter Ausreisen nach Afghanistan beziehungsweise in die afghanisch-pakistanische Grenzregion wurde jedoch erst zwei Jahre später registriert. Für den Zeitraum 2009 und 2010 wurden den Sicherheitsbehörden über 100 Personen bekannt, die jihadistisch motiviert in das Gebiet ausgereist waren. Zunehmend wurde auch die Ausreise von Frauen festgestellt. Die ausgereisten Personen, die ihr Ziel erreichten, schlossen sich lokalen jihadistischen Gruppen an, um sich am Kampf der „Taleban“ gegen die internationalen Truppen zu beteiligen. Eine Vielzahl der Ausgereisten stand in Verdacht, im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet eine Kampfausbildung durchlaufen zu haben. Bei einer Rückkehr nach Deutschland drohten von ihnen sicherheitsgefährdende Aktivitäten auszugehen.
In den Jahren 2009 und 2010 wurden Drohungen gegen Deutschland und deutsche Interessen im Ausland weniger durch die Propaganda der Kern-„al-Qaida“ kommuniziert, sondern zunehmend durch – von „al-Qaida“ zumeist autorisierten – deutschsprachigen Videobotschaften. Diese wurden durch die ausgereisten Personen selbst produziert. Darin wurde zur Ausreise und Beteiligung im Jihad aufgerufen.
So wurden von dem aus Bonn stammenden Jihadisten Bekkay Harrach mehrere Videos bekannt, in denen er sich unter anderem im Duktus einer präsidialen Verlautbarung ausführlich zur deutschen Politik äußerte und mit Anschlägen drohte.
Daneben sammelte die 2011 gegründete salafistische Organisation „Millatu Ibrahim“ unter der propagandistisch wirksamen Führung von Denis Cuspert und Mohamed Mahmoud Jihadisten aus ganz Deutschland, von denen viele ab Herbst 2012 über Ägypten nach Syrien ausreisten. Der Verein wurde im Mai 2012 durch den Bundesminister des Innern verboten.
„IS-Kalifat“ zieht Jihadistinnen und Jihadisten an
In Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern hatte die jihadistische Szene bereits im Jahr 2012 eine beachtliche Dynamik entwickelt. Die Ausrufung des „Kalifats“ auf weiten Teilen des syrischen und irakischen Staatsgebietes Ende Juni 2014 durch den „Islamischen Staat“ (IS), der aus einem irakischen „al-Qaida“-Ableger hervorgegangen war, bedeutete eine erneute Zäsur.
Zum ersten Mal kontrollierte eine jihadistische Organisation ein zusammenhängendes großräumiges Territorium und propagierte hier ein „Staatswesen“. Die Anziehungskraft auf jihadistisch motivierte Ausreisewillige aus aller Welt übertraf die von „al-Qaida“ bei Weitem: Von der Propaganda des IS inspiriert, reisten Jihadisten und bald auch immer mehr Jihadistinnen mit der Vorstellung nach Syrien, nach dem Vorbild des islamischen Propheten Muhammad eine Auswanderung (arabisch: „Hijra“) in ein „wahrhaft“ islamisches Land zu vollziehen. Der IS propagierte seine quasistaatlichen Strukturen, die auch die Ausreise von Familien ermöglichen sollte.
Die Gesamtausreisezahlen der Jahre 2011 bis 2021 aus Deutschland nach Syrien und Irak liegen mit über 1.150 Personen bis heute um den Faktor 4 bis 5 höher als die Ausreisen zwischen 2008 und 2011 nach Afghanistan. Entsprechend stark wirkten diese vielen Ausreisen auf die Gefährdungslage, den Umgang mit Rückkehrern, die strafrechtliche Verfolgung bis hin zur Situation in Justizvollzugsanstalten und erzeugten die Notwendigkeit von Deradikalisierungsangeboten.
Obwohl der IS seit 2017 einen Großteil des von ihm beherrschten Territoriums verloren hat und sich von einem quasistaatlichen Akteur zu einer Terrorgruppe im Untergrund gewandelt hat, hält die Bedrohung weiter an: Die Ideologie dauert ebenso fort wie der Mythos des „Kalifats“. Die regionalen Ableger existieren genauso weiter wie die internationale Unterstützerszene und ihre Propaganda.
Wandel des globalen Jihadismus seit 9/11
Zwischen 2001 und 2021 wandelt sich der globale Jihadismus von der hierarchisch strukturierten Kampforganisation „al-Qaida“ über die Struktur der regionalen Ableger bis hin zum „inspirierten“ und „führerlosen“ Jihad und mit den zwei dominierenden jihadistischen Organisationen „al-Qaida“ und IS. Diese haben zwar die gleiche Wurzel und verfolgen die gleiche Ideologie, aber konkurrieren miteinander.
Zwar vertritt „al-Qaida“ mit ihrem Gefüge regionaler Ableger weiterhin einen Führungsanspruch im globalen Jihad, scheint aber aus der militärischen Niederlage des langjährigen jihadistischen Konkurrenten keine Vorteile ziehen zu können. Der IS wendete nicht nur eine neue Dimension brutaler Gewalt an, sondern bediente auch „Lifestyle“-Elemente westlicher Jugendkulturen. Über die Möglichkeiten der sozialen Medien erreichte der IS und seine Anhänger eine größere Reichweite.
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Anschläge in Deutschland und Europa
Deutschland als Teil der westlichen Staatengemeinschaft steht seit 20 Jahren anhaltend im Fokus des islamistischen Terrorismus. Während bereits in den Jahren 2004 und 2005 in Madrid und London schwere Anschläge in Europa erfolgten, blieb Deutschland noch einige Jahre von Anschlägen verschont. Zwar versuchten bereits 2006 islamistisch motivierte Täter, Sprengsätze in Regionalexpresszügen der Deutschen Bahn zur Explosion zu bringen, allerdings detonierten diese Sprengsätze aufgrund fehlerhafter Konstruktionsweise nicht.
Seit langer Zeit besteht in Deutschland eine hohe Gefährdungslage durch islamistische terroristische Anschläge. Jedoch fanden mit Ausnahme des Schusswaffenanschlags eines kosovarisch-serbischen Staatsangehörigen auf zwei US-amerikanische Soldaten am Flughafen Frankfurt am Main im März 2011 kein tödlicher Terrorakt mit islamistischem Hintergrund statt. Anschlagsvorhaben scheiterten aus technischen Gründen oder konnten in mehreren Fällen verhindert werden.
So konnte im Juni 2018 der Anschlagsplan des sogenannten Rizin-Bombers unterbunden werden. Ein tunesischer Staatsangehöriger hatte in seiner Wohnung in Köln-Chorweiler mit Unterstützung seiner Ehefrau einen Bombenanschlag mittels einer biologischen Waffe auf der Basis von Rizin vorbereitet. Beide wurden 2020 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Bei der Anschlagsplanung handelt es sich um den ersten Fall einer jihadistisch motivierten Herstellung von Biowaffen in Deutschland.
Seit 2015 gab es insgesamt zehn islamistisch motivierte Anschläge in unserem Land. Analog zur Hochphase des „IS-Kalifats“ und der Häufung von islamistisch-terroristischen Anschlägen auch in anderen europäischen Ländern fanden alleine sechs der terroristischen Anschläge in Deutschland im Jahr 2016 statt: Dabei war der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz mit zwölf Toten und über 50 Verletzten der bislang folgenschwerste Anschlag in Deutschland.
Seit dem Jahr 2001 wurde zunehmend auch mit zusätzlichen staatlichen Maßnahmen auf die Bedrohungslage reagiert. Hier sind beispielsweise die Verbote von 19 islamistischen Vereinigungen durch die jeweils amtierenden Bundesinnenminister zu nennen. Hinzu kommen weitere Vereinsverbote durch die Innenbehörden der Länder.
Die Wirkung dieser und weiterer Verbotsmaßnahmen war nachhaltig und beeinträchtigte die Strukturen der Szene. Nicht zuletzt dieser Faktor führte zur bis heute anhaltenden Fragmentierung der Szene, die mit einem Rückzug ins Private und einem Rückgang überregionaler Vernetzung einhergeht.
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Zudem konnten bis heute zahlreiche islamistisch motivierte Ausreisen verhindert werden. Somit zeigt sich auch im staatlichen Handeln ein wesentlicher Faktor, der die islamistische Szene in Deutschland nachhaltig beeinflusst hat. Offenes Auftreten wurde erschwert, Strukturen geschwächt, Finanzmittel eingezogen und Sympathisanten abgeschreckt.
Das wirkte sich insbesondere auf die salafistische Szene aus, die als „Durchlauferhitzer“ für den jihadistisch-islamistischen Terrorismus gilt. Lange Zeit wurde der Salafismus als die am schnellsten wachsende islamistische Szene charakterisiert. Von ihm ging eine besondere Dynamik aus.
In diesem Milieu entstand auch die Koranverteilungsaktion „LIES!“ des Vereins „Die Wahre Religion“, der im Jahr 2016 durch den Bundesminister des Innern verboten wurde. „LIES!“ stellte ein einzigartiges Sammelbecken für jihadische Islamisten und Ausreisewillige nach Syrien und Irak dar.
Die Wirkung dieser und weiterer Verbotsmaßnahmen beeinträchtigte die Strukturen der Szene nachhaltig. Das ehemals dynamische Wachstum des Personenpotenzials hat sich in den vergangenen Jahren auf hohem Niveau abgeflacht.
Entwicklung der Bedrohungslage
Die Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus ist auch 20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht zurückgegangen und obendrein vielschichtiger geworden. Neben „al-Qaida“ ist der IS entstanden. Komplexe und multiple Anschläge, gesteuert durch terroristische Gruppen aus dem Ausland, haben in Deutschland bislang nicht stattgefunden, sind aber auch heute noch jederzeit denkbar.
Das die Bedrohung ausmachende Personenpotenzial hat sich jedoch verändert. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und der daran beteiligten „Hamburger Zelle“ dominierte in den ersten Jahren vor allem das Szenario der aus dem Ausland eingereisten und gesteuerten „Schläferzellen“.
Spätestens mit dem dynamischen Wachstum der salafistischen Szene seit 2011 wurde aber deutlich, dass die Personen des relevanten Personenpotenzials überwiegend in Deutschland geboren beziehungsweise hier sozialisiert worden waren. Konvertiten machten eine wesentliche Minderheit darin aus. Das so bezeichnete „Homegrown-Spektrum“ wurde als durchschnittlich jünger und aktionsorientierter charakterisiert. Das traf vor allem für Ausreisewillige nach Afghanistan sowie nach Syrien und in den Irak zu.
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Daneben ist die Bedrohung durch „inspirierte“ Anschläge allein agierender Personen mit leicht zu beschaffenden und einzusetzenden Tatmitteln wie Messern hinzugekommen, die das Anschlagsgeschehen der vergangenen Jahre dominieren. Zuletzt mehrten sich Taten, bei denen das Verhältnis von einer islamistischen Motivation und einer durch eine psychische Erkrankung motivierten Handlung nicht eindeutig gewichtet werden konnte. Das stellt eine enorme Herausforderung für die Sicherheitsbehörden dar.
Ausblick
Die anhaltenden Krisenherde im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika liefern weiterhin den Nährboden für islamistische Mobilisierung. Die Machtübernahme der „Taleban“ in Afghanistan könnte sich maßgeblich auf den Phänomenbereich und die künftige Entwicklung des IS und „al-Qaida“ auswirken.
Im Zusammenhang mit islamistisch motivierten Gewalttaten ist auch die Rolle von islamkritischen Ereignissen, wie beispielsweise das Zeigen von Karikaturen des Propheten Muhammad, zu berücksichtigen: Zuletzt zeigte sich eine solche dynamische Lageentwicklung im Herbst 2020 in der Folge der Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty, die sich auch auf Deutschland auswirkte.
Das gilt insbesondere in einer Phase, in der das auf einen bestimmten ausländischen Jihadschauplatz gerichtete Interesse der salafistischen und jihadistischen Szenen insgesamt nachgelassen hat.
Die Sicherheitsbehörden haben sich umfassend auf die Bedrohungen der globalen und nationalen Sicherheit durch den islamistischen Terrorismus eingestellt. Die terroristischen Organisationen haben ihre Anpassungsfähigkeit in der Vergangenheit ebenfalls unter Beweis gestellt, die zum Beispiel durch den Verfolgungsdruck der Sicherheitsbehörden, aber auch durch den technologischen Wandel erforderlich wurde. Herausforderung für die Sicherheitsbehörden wird neben der Bearbeitung des weiterhin hohen Aufkommens an Hinweisen und Gefährdungssachverhalten die Stärkung der reflektiv-analytischen Fähigkeiten sein, die einmal gesetzten Kategorien immer wieder zu hinterfragen und gegebenenfalls anzupassen.