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Queerfeindlichkeit im Islamismus.

(Juli 2024)

Queerfeindliche Äußerungen sind im Islamismus weit verbreitet und scheinen aktuell – in Wechselwirkung zu der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema – noch einmal an Bedeutung zu gewinnen.
Das Feindbild LGBTQ-Bewegung ist nicht neu, aber von wachsender Bedeutung als Ausdrucksform der islamistisch motivierten Ablehnung beziehungsweise Bekämpfung der liberalen und pluralistischen Demokratie westlicher Prägung.
Als Objekt für islamistische Agitation ist es somit insbesondere für Gruppierungen und Organisationen relevant, die eine umfassende Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft propagieren, wie beispielsweise die der mit einem Betätigungsverbot belegten „Hizb ut-Tahrir“ (HuT) nahestehenden Gruppierungen „Realität Islam“ und „Muslim Interaktiv“.
Dabei stehen besonders LGBTQ-Muslime beziehungsweise Muslime, die die Vereinbarkeit von Islam und LGBTQ vertreten, in deren Zielspektrum.

Ablehnung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt

Die Ablehnung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, die in modernen demokratischen Gesellschaften zum Alltag gehört, insbesondere der Homosexualität und Transidentität, ist fester Bestandteil aller islamistischen Ideologien. Dabei wird auf verbreitete Vorbehalte in vielen nahöstlichen und afrikanischen, aber auch „westlichen“ Gesellschaften aufgesattelt. Damit ist islamistisch motivierte Queerfeindlichkeit für den Verfassungsschutz relevant.

Das Feindbild repräsentiert für Islamisten vor allem die von ihnen abgelehnte beziehungsweise aus ihrer Sicht zu bekämpfende liberale und pluralistische demokratische Gesellschaft westlicher Prägung, die nach ihrer Lesart die im traditionellen Islam verwurzelten Lebensformen zerstört. Diese Sichtweise ist nicht neu, scheint allerdings aktuell in Wechselwirkung mit der intensiven öffentlichen Präsenz des Themas noch einmal an Bedeutung zu gewinnen. Je intensiver die Rechte Homosexueller sowie Transgender-Personen von Politik und Medien thematisiert werden, desto stärker wird Queerfeindlichkeit seitens der Islamisten propagiert – eine solche Wechselwirkung ist auch in anderen Extremismusbereichen (insbesondere im Rechtsextremismus) feststellbar.

Die Aufnahme zeigt eine Wand in beschädigten Regenbogenfarben
picture alliance / SULUPRESS.DE | Torsten Sukrow

Übergreifend betrachtet handelt es sich bei LGBTQ-feindlichen Äußerungen um strömungsübergreifende Brückennarrative, deren Anschlussfähigkeit sich einerseits aus dem religiös tradierten Familienbild des Islam herleiten lässt und andererseits Referenzen in anderen Extremismusbereichen (zum Beispiel Rechtsextremismus) findet, die ebenfalls auf eine traditionelles Familienbild rekurrieren.

Mehr zum Thema: „Queerfeindlichkeit im Rechtsextremismus"

Traditionelles Rollen- und Familienbild

In den Rechtsschulen der klassisch-islamischen Theologie besteht überwiegender Konsens über ein Verbot des Auslebens von Homosexualität, im Gegensatz zur bis ins 19. Jahrhundert gelebten Praxis in islamisch geprägten Kulturen. Doch es waren islamistische Vordenker, vor allem der salafistischen Strömungen, die sich ausdrücklich gegen die als „Unzuchtsverbrechen“ gebrandmarkte, ausgelebte Homosexualität positioniert haben.

In Staaten/Herrschaftsordnungen mit konservativ-islamischer bzw. islamistischer Gesetzgebung wird diese bis heute repressiv verfolgt und bis hin zur Anwendung der Todesstrafe sanktioniert. Liberal-islamische Gemeinden betonen dagegen, dass die islamischen Texte nicht als Verbot von Homo- und Transsexualität zu interpretieren seien. Damit werden sie insbesondere von HuT-nahen, salafistischen und jihadistischen Gruppierungen massiv angefeindet.

Darunter sind Gruppierungen, die sich in erster Linie dem Erhalt und der Pflege der bestehenden Strukturen sowie der internen Weitergabe ihrer extremistischen Ideologie widmen. Andere Organisationen setzen auf gesellschaftliche sowie politische Einflussnahme auf allen Ebenen in Deutschland.
Einige Gruppierungen wenden sich ausschließlich an die muslimische Bevölkerung mit dem Ziel der Polarisierung zur Gewinnung von Anhängern.
So sind beispielsweise die Gruppierungen „Realität Islam“, „Generation Islam“ sowie „Muslim Interaktiv“, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen, propagandistisch außerordentlich aktiv.

Islamisten beschwören ein traditionelles, streng patriarchalisches Familienbild als Teil einer umfassend geregelten gesellschaftlichen Ordnung, in der nonkonformes Verhalten als Angriff gegen die nach althergebrachten islamischen Regeln konstruierte Gemeinschaft gewertet wird. Das zeigt sich vor allem an den konsequent normierten Geschlechterrollen, bei denen dem Mann im Stil eines übersteigerten Männlichkeitsbilds die Rolle als Familienoberhaupt, öffentlichem Akteur und gegebenenfalls auch Kämpfer zugeschrieben wird, während die Frau mit ihren Aufgaben für Mutterschaft und Familie auf den privaten Bereich reduziert ist.

Jegliche „Angleichung“ der Geschlechter, ihrer Aufgaben und Aktionsräume wird dementsprechend abgelehnt. Im Fokus steht dabei vor allem die männliche Homosexualität („liwat“), die als „Verweiblichung“ des Mannes und damit der Gesellschaft verunglimpft wird.

Die Verbreitung queerfeindlicher Propaganda findet vor allem im Bereich der sozialen Medien statt, kann aber je nach Strömung auch eine Rolle in Moscheen oder Seminarveranstaltungen spielen. Die verschiedenen islamistischen Strömungen nutzen das Thema in unterschiedlicher Intensität: Als Objekt für islamistische Agitation ist es insbesondere für Gruppierungen/Organisationen relevant, die eine umfassende Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft propagieren. Das gilt vor allem für die salafistische und die jihadistische Szene, aber auch für Gruppierungen, die ideologisch der HuT zugeordnet werden können.

Jihadistische Propaganda

LGBTQ-Menschen sowie Symbole und Orte der LGBTQ-Szene waren in den letzten Jahren wiederholt Ziel islamistischer Angriffe. Jihadistische Gruppierungen gingen und gehen immer wieder mit großer Brutalität gegen Homosexuelle vor.

In der Zeit des „IS-Kalifats“ thematisierte die IS-Propaganda die Tötung von Homosexuellen, die von Hausdächern geworfen wurden. Auch in der inoffiziellen jihadistischen Propaganda wird das Feindbild LGBTQ-Bewegung regelmäßig zum Ausdruck gebracht und in den Kontext der islamistischen Ideologie eingeordnet, wie die folgenden aktuellen Beispiele aus dem Frühjahr 2023 belegen:

  •  In der im Februar 2023 erschienenen 22. Ausgabe der dem „Islamischen Staat - Provinz Khorasan“ (ISPK), dem afghanischen Ableger des „Islamischen Staates“ (IS), zuzuordnenden Onlinepublikation „Voice of Khurasan“ wird in einem Artikel mit der Überschrift „Jihad is an obstacle in the Path of the Followers of Whim“ (etwa: „Der Dschihad ist ein Hindernis auf dem Pfad der Willkür und Launen seiner Anhänger“) die LGBTQ-Bewegung als „moralische Verzerrung“ bezeichnet, die „unweigerlich zum Ertrinken in der Dunkelheit der Unwissenheit“ führe. Weiter heißt es: „Und Toleranz gegenüber Homosexualität ist ein neu entwickeltes Virus, mit dem sie [gemeint sind „der Westen“ und die mit ihm verbündeten islamischen Staaten] die muslimische Jugend lähmen wollen“.
    Außerdem wird die in der Publikation mit einem Bild gezeigte Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin, die tolerant gegenüber LGBTQ-Menschen ist, als „place of worship of devils“ (etwa: Ort der
    Teufelsanbetung) bezeichnet.
  • In der achten Ausgabe des 38-seitigen „al-Qaida“ (AQ)-nahen Onlinemagazins "Ummah Wahida“ vom 10. Februar 2023 wird Katar für die Ausrichtung der WM 2022 und die damit einhergehende Tolerierung von angeblich islamwidrigen Handlungen kritisiert. Als Beispiel wird die Beherbergung von Homosexuellen sowie der Auftritt der Bundesinnenministerin Nancy Faeser mit der „One Love“-Armbinde bei einem WM-Spiel kritisiert. Stattdessen hätte Katar als Druckmittel die Unterzeichnung eines 15-jährigen Gas-Liefervertrags mit Deutschland gehabt.
  • Ein Nutzer des AQ-nahen Telegramkanals „Hidayat alsari“ betont die Kluft zwischen dem Islam und dem modernen Westen in Bezug auf den Glauben und damit zusammenhängende Wertvorstellungen – eine Kluft, die noch größer sei, als die technologische Kluft. Hervorgehoben werden hier neben Alkoholgenuss, Wettspiel, „Unzucht“ und Wucher vor allem die „(sexuelle) Abnormität“. Im Glauben sei der Islam daher dem Westen überlegen.
  • In einem durch die „al-Qaida“-Medienstelle „as-Sahab“ veröffentlichten Text mit dem Titel „Die Überbleibsel des Volkes Lots und ihre Werber“ kritisiert der Verfasser arabischsprachige Sendungen von Fernsehsendern wie France 24 und Deutsche Welle, in welchen Homosexualität befürwortet werde. So argumentiert er auch gegen den ägyptischen Journalisten Ibrahim Issa, der im arabischsprachigen Fernsehsender Alhurra sagte, dass Homosexualität in der Herrschaftszeit der Abbasiden (750-1517) unter den Muslimen verbreitet gewesen sei. Am Ende der 18-seitigen Textveröffentlichung wird zur Tötung des ägyptischen Journalisten aufgerufen.
  • Ein Instagram-Nutzer verbreitete am 10. März 2023 ein Video, in dem ein Mann fragt, wann es denn endlich „in Ordnung“ sein werde, „als Muslim schwul zu sein“. Im Folgenden sind Angehörige der IS-Sittenpolizei zu sehen, die einen Mann mit verbundenen Augen von einem hohen Gebäude stürzen. Hierzu ist das Nashid „Das Klirren der Schwerter“ zu hören. Beim Nashid handelt es sich um islamische Sprechgesänge oder Hymnen, welche den Lob Allahs, des Propheten oder die Zugehörigkeit zur islamischen Glaubensgemeinschaft beinhalten. Der Nutzer kommentiert: „Guten Flug“ und „kein Aufruf zur Selbstjustiz“.

Salafistische Szene

Die meisten öffentlich zugänglichen, deutschsprachigen queerfeindlichen Äußerungen mit Islamismushintergrund sind Predigern und Influencern der sogenannten politisch-salafistischen Szene zuzuordnen.

Pierre Vogel mit dem Schriftzug „Kehrt zurück zu Allah“
Pierre Vogel

Islamistisch motivierte, queerfeindliche Äußerungen aus Predigten beziehungsweise aus öffentlich zugänglichen Social-Media-Plattformen sind von vielen salafistischen Predigern und Influencern bekannt, darunter zum Beispiel Pierre Vogel und Ibrahim El-Azzazi. Sie betonen gleichermaßen, dass die „Neigung“ zwar erlaubt, das „Ausleben“ jedoch verboten sei. In Einzelfällen wird auf die Möglichkeit von „Heilern“ hingewiesen.

Die salafistischen Ansätze der genannten Personen unterscheiden sich teilweise in der Schwerpunktsetzung und Themenauswahl. Die meisten setzen sich – teilweise sehr emotional – mit den Argumenten der liberalen Befürworter (muslimisch und nicht muslimisch) auseinander und versuchen, diese unter Zuhilfenahme von theologischen oder „logischen“ Argumenten zu entkräften. Andere salafistische Prediger fokussieren sich in jüngerer Zeit auch zunehmend auf Themen aus aktuellen Debatten.
Im Kontext der Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar gab es im salafistischen Spektrum hauptsächlich Reaktionen zur Kampagne „One-Love“ und der damit veröffentlichten Armbinde.

Vogel argumentiert beispielsweise eher moralisch-theologisch und thematisiert das gebotene oder verbotene Verhalten des Individuums sowie die Konsequenzen für die Lehre und die islamische Gemeinschaft. Vogels Kritik richtet sich dabei primär an liberale Muslime, die aus seiner Sicht eine Verfälschung des Islams verursachen. Diese seien „Scharlatane“, die sich gegen das Wort Gottes auflehnten. Dabei bezieht er sich auch auf die anderen monotheistischen Religionen Christentum und Judentum (die zumeist im Fokus seiner Kritik stehen) und postuliert als selbst ernanntes Sprachrohr ihrer konservativen Strömungen immer wieder: „Wir lassen es nicht zu, dass unsere Religion verändert wird“.

Als Beispiel führt er die im Jahr 2021 gestartete Kampagne „Liebe ist halal“ der Berliner Ibn Rushd-Goethe Moschee an, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt wird. Für Vogel handelt es sich dabei um einen Missbrauch an der für Muslime unabdinglichen Halal-Zertifizierung.

Mehr zum Thema: „Liebe ist Halal“ (Kampagnenseite)

In einem anderen Video kritisiert er, dass Muslime, die für ihn keine Muslime seien, an Talk-Shows teilnähmen und Verständnis für LGBTQ zeigten bzw. eine Vereinbarkeit mit dem Islam sähen. Nach seiner Auffassung gäbe es keine Debatte oder Uneinigkeit im Islam über die Unvereinbarkeit von Islam und LGBTQ. Wer Homo- und Transsexualität gutheiße, könne kein Muslim sein. Die Teilnahme an solchen Debatten (selbst mit guten Absichten) sei klarer „kufr“ - also eine Tat von Ungläubigen - und die Person „raus aus dem Islam!“.

Der salafistische „Influencer“ Ibrahim El-Azzazi (Sheikh Ibrahim) äußert sich zwar knapp, aber unmissverständlich auf Youtube- und in diversen TikTok-Clips in Frage-Antwort-Manier: Homosexualität sei im Islam verboten, eine entsprechende Neigung dürfe nicht ausgelebt werden.

Der „Hizb ut-Tahrir“ (HuT) nahestehende Gruppierungen

Auch die gleichnamigen Social-Media-Kanäle der HuT-nahen Gruppierungen „Realität Islam“ (RI), „Generation Islam“ (GI) und „Muslim Interaktiv“ (MI) thematisieren regelmäßig die angebliche Unvereinbarkeit von LGBTQ mit dem Islam.

Hier werden Beiträge in Form von Videos, Texten oder Memes publiziert, in denen nichtbinäre Geschlechtsidentitäten und nicht heterosexuelle Orientierungen als nicht islamkonform abgelehnt werden. Die Protagonisten nehmen das Thema regelmäßig zum Anlass, um eine vermeintliche „Doppelmoral“ des „Westens“ anzuprangern. So einerseits das Milliardengeschäft der FIFA in Katar stattfinden zu lassen und mit hohen Einschaltquoten zu unterstützen, andererseits aber bei Menschenrechten den moralischen Zeigefinger zu erheben.


Der schiitisch-extremistische Kanal „Actuarium“

Auch im Bereich des schiitischen Extremismus werden queerfeindliche Äußerungen teilweise auf Veranstaltungen und in Predigten verbreitet. Es gibt darüber hinaus Social-Media-Kanäle, die neben anderen Inhalten queerfeindliche Themen und Äußerungen aufgreifen und Homosexualität als „unnatürlich“ darstellen. Hier ist das Beispiel des YouTube-Kanals „Actuarium“ zu nennen.

Schriftzug „Unsere Kinder sind in Gefahr“
„Actuarium“

Der Kanal wurde 2017 gegründet und hat inzwischen rund 37.700 Abonnenten (Stand: Oktober 2023). Im Stil eines Influencers vermischt der Betreiber des Kanals unpolitische Inhalte mit großer Breitenwirkung mit islamistischen, antiisraelischen und antisemitischen Botschaften.

Hierbei setzt er sich neben islamischen und proiranischen politischen Themen auch stets mit anderen aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinander.

Nach Einflussnahme im politischen Raum strebende islamistische Organisationen

Queerfeindlichkeit spielt für nach Einflussnahme im politischen Raum strebende islamistische Organisationen propagandistisch eine nachrangigere Rolle. Deren Vertreterinnen und Vertreter versuchen normalerweise, offene Kritik an und Diffamierung von LGBTQ zu vermeiden, da es ihrem Ziel der gesellschaftlichen Anerkennung entgegenstehen würde.

Mehr zum Thema: „Islamismus: Gruppierungen, Ideologie und Propaganda“ (Bundeszentrale für politische Bildung)

Bewertung

Polizeikräfte untersuchen den Tatort vom Messerangriff am 5.10.2020 in Dresden
picture alliance | Roland Halkasch Polizeikräfte untersuchen den Tatort vom Messerangriff am 5.10.2020 in Dresden

Die Reaktionen aus dem salafistischen wie auch dem jihadistischen Spektrum belegen eine strikte Ablehnung aller LGBTQ-Menschen und ihren an die Gesellschaft gerichteten Wünschen und Forderungen sowie der öffentlichen Diskussion darüber.

Somit werden diese unablässig zum Anknüpfungspunkt für Hassreden und -predigten, die zu einer eskalierenden Spirale der Verunglimpfung queerer Menschen, aber auch generell zu Feindseligkeit gegenüber der westlichen Welt und den „Ungläubigen“ führen können.

Solche Einstellungen haben in der Vergangenheit immer wieder auch zu physischen Auseinandersetzungen geführt, die auch tödlich enden können, wie der islamistisch motivierte Messerangriff auf ein homosexuelles Paar im Oktober 2020 in Dresden zeigt, bei dem eine der angegriffenen Personen getötet wurde.