Forschungsprojekt des BfV wirft neues Licht auf die innerdeutsche Spionage während des Kalten Krieges
Analyse bislang unveröffentlichter Akten des Verfassungsschutzes widerlegt „Stasi-Mythos“ und belegt Wirksamkeit der Spionageabwehr
Der Historiker Prof. Dr. Michael Wala (Ruhr-Universität Bochum) erhielt im Rahmen des öffentlich ausgeschriebenen Forschungsprojekts „Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Abwehr der Spionage des Ministeriums für Staatssicherheit, 1950-1990“ Zugang zum Archiv des BfV. Die Forschungsergebnisse werden in der Publikation „Der Stasi-Mythos. DDR-Auslandsspionage und der Verfassungsschutz“ veröffentlicht, welche am 10. Oktober 2023 erscheint.
Die Ergebnisse des Forschungsprojektes eröffnen einen neuen Einblick in einen bislang verborgenen Bereich der Geschichte der deutschen Nachrichtendienste und des Kalten Krieges, der den „Stasi-Mythos“ korrigiert. So zeigt sich, dass es der Spionageabwehr gelang, mit umfangreichen systematischen Suchmaßnahmen einen Großteil der in die Bundesrepublik entsandten Aufklärer der HV A (Hauptverwaltung Aufklärung) zu entdecken. Zudem konnte die Spionageabwehr in vier Jahrzehnten auch zahlreiche Stasi-Spione „überwerben“ und als Doppelagenten gegen ihren ursprünglichen Auftraggeber einsetzen.
In der Gesamtschau erreichte die strukturell und zahlenmäßig deutlich kleinere Spionageabwehr gegenüber der DDR-Spionage trotz der normativen Grenzen eines Nachrichtendienstes in einem demokratischen Gemeinwesen immer wieder bedeutsame Erfolge. Die Ergebnisse widerlegen auch die beschönigende Behauptung ehemaliger Angehöriger des MfS (Ministerium für Staatssicherheit), die HV A-Agenten seien „moralisch gefestigte, aus politischem Idealismus handelnde Kundschafter des Friedens“ gewesen. Die tatsächliche Motivation war vielmehr profan; es ging in der Regel um Geld und Karriere.
Prof. Dr. Michael Wala erklärt zu den Ergebnissen seiner Arbeit:
„Durch den uneingeschränkten Zugang zum Geheimarchiv der Spionageabwehr des BfV für die Zeit von 1950 bis 1990 konnte erstmals überprüft werden, ob die Arbeit der DDR-Auslandsgeheimdienste in der Bundesrepublik tatsächlich so erfolgreich war, wie ihre ehemaligen Mitarbeiter behaupten. Das Forschungsprojekt konnte zeigen, dass die Wirklichkeit anders aussah: Fast 2.000 DDR-Quellen und Agenten, die als Doppelagenten für den Verfassungsschutz arbeiteten, mehr als 3.000 Verurteilungen wegen DDR-Spionage, über 150 ehemalige Mitarbeiter, die ihr Wissen für hohe Geldbeträge teilweise schon vor 1989 an die Spionageabwehr verkauften und so dafür sorgten, dass von der stolzen HV A nur ein Scherbenhaufen übrig blieb, erzählen eine andere Geschichte.“
Der Präsident des BfV, Thomas Haldenwang, erklärt zu dem Forschungsprojekt:
„Ein transparenter und seriöser Umgang mit dem eigenen Handeln und der eigenen Geschichte ist dem BfV wichtig. Die Spionageabwehr bildete insbesondere zur Zeit des Kalten Krieges das Herzstück der Verfassungsschutzarbeit und ist auch heute ein zentraler Baustein unserer täglichen Arbeit. Deshalb setzt das Forschungsprojekt angesichts der sicherheitspolitischen Zeitenwende auch Orientierungspunkte für die aktuelle und künftige Arbeit der Spionageabwehr des BfV. Die Bedrohungen fremder Mächte für die Bundesrepublik Deutschland sind in Ausmaß und Umsetzung so vielfältig wie nie. Neben klassischer Spionage in der Realwelt gewinnt der Cyberraum als Spielwiese verschiedenster sicherheitsrelevanter Akteure immer mehr an Bedeutung. Die Forschungsergebnisse belegen deutlich, dass die Spionageabwehr schon damals gut und erfolgreich gearbeitet hat. Wir können aber auch Lehren daraus ziehen, um die heutigen Herausforderungen der Spionageabwehr zu meistern.“
Weitere Informationen zum Forschungsprojekt:
Die Ausgangslage
Mit dem Untergang der DDR standen die Entscheidungsträger im Politbüro der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) vor der politischen Bedeutungslosigkeit. Sie verloren nicht nur ihre Macht und die Verfügung über materielle Güter, sondern sahen sich nach einer 40 Jahre andauernden Diktatur mit Forderungen der Bevölkerung nach einer Aufarbeitung der Unterdrückung konfrontiert. Zugleich erweckten Angehörige der für die Spionage zuständigen HV A des MfS den Eindruck, diese sei kein Teil der geheimpolizeilichen Unterdrückung gewesen. HV A-Angehörige gaben an, lediglich weltweit übliche Aufklärungsarbeit geleistet zu haben. Dazu behaupteten sie, das MfS mit seiner HV A sei „einer der besten Geheimdienste der Welt“ gewesen. Die HV A-Angehörigen seien idealistisch motivierte, mit einer festen sozialistischen Haltung agierende „Kundschafter des Friedens“ gewesen.
Diese Selbstheroisierung kann bis heute nachwirken, weil ein Großteil der HV A-Akten in der Wendezeit vernichtet wurde und zudem die Spionageabwehr des BfV als zentrale Abwehrbehörde die Spionage der DDR zwar nach der Deutschen Einheit aufgearbeitet hat, aber ihren Aktenbestand auch weiterhin – zum Schutz der eigenen Methoden, der Sicherheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie von Kooperationspartnern – geheim halten musste.
Forschungsprojekte des BfV
Bereits 2015 legten Wissenschaftler Ergebnisse eines ersten Geschichtsprojekts zur „Organisationsgeschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz 1950–1975 unter besonderer Berücksichtigung der NS-Bezüge früherer Mitarbeiter in der Gründungsphase“ vor . Daraus entstand die Idee, auch die Spionageabwehr des Verfassungsschutzes gegenüber der DDR-Auslandsspionage auf der Grundlage von Aktenbeständen des Bundesamts zu untersuchen.
Für das zweite Geschichtsprojekt des BfV – 30 Jahre nach dem Untergang des MfS, erhielt Prof. Dr. Michael Wala (Ruhr-Universität Bochum) im Rahmen des Forschungsvorhabens „Das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Ministerium für Staatssicherheit und die Spionageabwehr im Kalten Krieg“ uneingeschränkten Zugang zu den historischen Akten der Spionageabwehr. Zusammen mit einem kleinen Projektteam ehemaliger BfV-Bediensteter untersuchte er die innerdeutsche Spionageauseinandersetzung zwischen 1950 und 1990. Seine Erkenntnisse glich er mit Aktenbeständen unter anderem der National Archives (USA), des National Archive (GB), des Stasi-Unterlagen-Archivs und des Bundesarchivs ab.
Dank des Forschungsprojektes kann die Geschichte der bundesdeutschen Spionageabwehr auf einer gesicherten, bisher unbekannten Quellengrundlage dargelegt und somit eine wichtige Dimension deutsch-deutscher Geschichte neu beleuchtet werden. Walas Veröffentlichung „Der Stasi-Mythos – DDR-Auslandsspionage und der Verfassungsschutz“ auf der Basis des Projektes ist zugleich eine Organisationsgeschichte der Spionageabwehr, eine Untersuchung zu ihrer Einbindung in die bundesdeutschen und internationale Sicherheitsarchitektur und schließlich eine beispielhafte Analyse der Arbeit der Spionageabwehr aus 40 Jahren.
Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Spionageabwehr des BfV
Wala weist nach, dass die Selbsterhöhung der DDR-Auslandsspionage als „einer der besten Geheimdienste der Welt“ kaum nachvollziehbar ist. In seiner Veröffentlichung führt er aus, dass die HV A deutliche Niederlagen hinnehmen musste.
So etwa „überwarb“ der Verfassungsschutz über die Jahrzehnte etwa 2.000 HV A-Agenten, kontrollierte diese ohne Wissen der HV A und setzte sie gegen ihren ursprünglichen Auftraggeber als „Countermen“ ein. Jahr für Jahr wechselten so zwischen 40 bis 140 Personen die Seiten zum BfV.
Wala untersucht in seinem Forschungsprojekt das Wechselspiel zwischen den verschleierten Methoden der ostdeutschen Spionage und den Aufdeckungsbemühungen der westdeutschen Spionageabwehr. Dazu gehörten die Versuche der HV A, am einstigen Regierungssitz Bonn Zugänge zu Sekretärinnen von Bundeseinrichtungen oder Politikern zu erlangen – die „Sekretärinnen-Fälle“. Sie schleuste einerseits eigene Mitarbeiterinnen ein und ließ andererseits westdeutsche Mitarbeiterinnen durch „Romeos“ genannte MfS-Angehörige zum Verrat verführen.
Die HV A führte ihre Agenten im westdeutschen Operationsgebiet durch Funksendungen, dem die Spionageabwehr mit ihrer Funkabwehr begegnete. In diesem Rahmen gewann die Spionageabwehr über viele Jahre bedeutsame Erkenntnisse. So konnten in entschlüsselten Funksprüchen beispielsweise Hinweise auf den HV A-Agenten Günter Guillaume gewonnen werden, weshalb das BfV 1973 die Bundesregierung zu diesem Verratsfall unterrichten konnte. Zur Aufrechterhaltung der Kommunikation zwischen der Ost-Berliner Zentrale und den im westdeutschen Operationsgebiet tätigen Agenten setzte das MfS auch mobile Instrukteure und Kuriere ein. Bei der Aufklärung von deren Reisewegen und Kontakten im Bundesgebiet bemühte sich der Verfassungsschutz auch um internationale Zusammenarbeit.
Während der vier Jahrzehnte andauernden nachrichtendienstlichen Auseinandersetzung stand der Verfassungsschutz vor der Herausforderung, dass die DDR-Auslandsspionage über umfangreiche Ressourcen verfügte. So konnte die HV A insbesondere in den 1950er Jahren eine große Zahl an Aufklärern in die Bundesrepublik entsenden. Das BfV registrierte in diesem Zusammenhang allein in den 5 Jahren vor dem Mauerbau 1961 etwa 28.000 Personen. Dieses Massenverfahren hatte aber zur Folge, dass sich die meisten der vermeintlich überzeugten Agenten nach ihrer Übersiedlung zeitnah gegenüber der Spionageabwehr offenbarten.
Die Spionageabwehr verzeichnete zudem Erfolge gegen die dem MfS besonders wichtigen sowie arbeits- und kostenintensiven Operationen mit eingeschleusten Agenten, den sogenannten Illegalen. Dazu entwickelte das BfV methodische Suchmaßnahmen und sichtete ab den 1970er Jahren im Rahmen der „Aktion Anmeldung“ hunderttausende Meldekarten von Einwohnermeldeämtern. Anhand dieser Auswertung von Meldedaten zeigte sich, dass sich MfS-Agenten erkennbarer wiederkehrender Muster bedienten, sich falsche Identitäten über Anmeldungen im Ausland und mehrfachen Wohnadressenwechsel verschafften. Die Aufklärungserfolge des BfV bei der Enttarnung dieser Illegalen legten die Auslandsspionage der DDR für mehrere Jahre lahm.
In den 1980er Jahre erlitt die Spionageabwehr zwei gravierende Rückschläge, die zur Mythenbildung der DDR-Spionage beitrugen. Zunächst wechselte 1982 der Sachbearbeiter der Spionageabwehr Klaus Kuron die Seiten und lieferte dem MfS bis 1990 als so genannter „Maulwurf“ über Jahre hochsensible Informationen aus dem Innern der Spionageabwehr. 1985 trat Hansjoachim Tiedge, eine Führungskraft in der Spionageabwehr, in die DDR über. Allerdings war dies nicht das Resultat der Arbeit der HV A, sie wurden nicht nachrichtendienstlich angeworben, sie wechselten aus eigenem Willen die Seite. Kuron suchte als „Selbstanbieter“ von sich aus den Kontakt zum MfS, ihm ging es um Geld, um die Verdoppelung seines Einkommens. Bei Tiedge führte eine schwere Alkoholerkrankung und eine finanziell und sozial ausweglose Lebenskrise zum Übertritt in die DDR.
Resümee
In der Gesamtschau enthüllen die Forschungsergebnisse Walas die Behauptung von der HV A des MfS als „einer der besten Geheimdienste der Welt“ als einen „Stasi-Mythos“. Die Arbeit Walas ermöglicht eine (f)aktenbasierte Neubewertung des Bildes über die innerdeutsche Spionageauseinandersetzung während des Kalten Krieges, das bislang weitgehend von den Veröffentlichungen einstiger MfS-Angehöriger geprägt wurde.
Mit rund 4.500 Hauptamtlichen war die Auslandsspionage der DDR der gesamten Spionageabwehr in der Bundesrepublik personell mehr als fünffach überlegen und verfügte über den Zugriff auf sehr hohe Devisenbeträge. Bis auf wenige Quellen in Spitzenpositionen hat die HV A jedoch recht wenig vorzuweisen. Gelesen aus den Akten des Verfassungsschutzes war die HV A eine aufgeblähte Behörde, die mit viel Aufwand und hohen Kosten erstaunlich wenig wirklich relevante Informationen gewann.
Vom Mythos geprägt ist auch die moralische Selbstüberhöhung der MfS-Angehörigen und der HV A-Quellen als „Kundschafter des Friedens“. Diese arbeiteten in erster Linie nicht aufgrund ihrer ideologischen Hinwendung, sondern waren vielmehr zumeist an materiellen Dingen interessiert. Das betraf einerseits den Großteil der in der Bundesrepublik geworbenen Agenten, denen es vor allem um Gelderwerb ging. Andererseits galt das in der Regel auch für die Bediensteten der MfS-Zentrale: Ihnen scheint es sehr häufig um ihre Karriere gegangen zu sein, so dass die Arbeit mit ineffektiven Agenten nicht beendet wurde, sondern diese als angeblich wichtige Informationsbeschaffer dargestellt wurden, um dadurch die eigene Arbeit erfolgreicher erscheinen zu lassen. Dementsprechend zeigten sich viele Angehörige der HV A in der Endphase der DDR nicht als ihrer Sache treu verbundene Nachrichtendienst-Angehörige, sondern boten sich und ihr Wissen westlichen Nachrichtendiensten bereitwillig und sehr häufig gegen Bezahlung an: über 170 von ihnen nahmen Kontakt mit der Spionageabwehr des BfV auf – und das noch zu Zeiten des Bestehens der DDR und des MfS.
Prof. Dr. Wala bilanziert das Forschungsvorhaben deshalb so:
„Auch Dank der Arbeit des Verfassungsschutzes hat die Spionage des MfS wenig erreicht: fast 2.000 vermeintliche DDR-Quellen, die in Wirklichkeit für den Verfassungsschutz arbeiteten und Informationen über deren Methoden und Ziele lieferten, tausende von Verhaftungen in der Bundesrepublik und allein seit der Strafrechtsreform 1968 bis 1989 mehr als 600 Verurteilungen wegen Spionage für die DDR. Hunderte zurückgezogene MfS-Agenten aus dem Bundesgebiet, mehr als 200 MfS-Agenten, die der Verfassungsschutz mit Bild und biographischen Daten seinen Partnerdiensten in jährlich aktualisierten Listen offenbarte, so dass sie die HV A auch andernorts nicht mehr einsetzen konnte.
Am Ende war die DDR-Auslandsspionage gescheitert. Diejenigen, die diesen „Scherbenhaufen“ zu verantworten hatten, erzählten gleichwohl die Geschichte vom „besten Geheimdienst“, vernichteten den Großteil ihrer Akten und versuchten so nach Kräften dafür zu sorgen, dass der von ihnen geschaffene Mythos nicht an der Realität historischer Forschung gemessen werden könne.
Alles in allem erlauben es nun die Akten des Verfassungsschutzes, wesentliche Punkte des Mythos DDR-Auslandsspionage zu korrigieren und so eine Neubewertung des wohl spannendsten Kapitels der Geheimdienstgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, des deutsch-deutschen Spionagekriegs, vorzunehmen.“
Forschung zur Geschichte des BfV als ein Beitrag zur Transparenz
Die Forschungsprojekte zur Behördengeschichte des BfV wie zur Arbeit der Spionageabwehr verdeutlichen, dass ein Nachrichtendienst durchaus der Wissenschaft Zugang zu Archivalien und Zeitzeugen gewähren kann. Dies ermöglicht der zeithistorischen Forschung – wie auch der Öffentlichkeit – eine kritische und faktenbasierte Bewertung der Arbeit der grundsätzlich geheim arbeitenden Verfassungsschutzbehörden. Historische Forschungsvorhaben tragen so dem gesteigerten Bedürfnis einer demokratischen Gesellschaft auch nach sicherheitspolitischer Transparenz Rechnung. Dem kommt das BfV auch mit seiner Presse- und Öffentlichkeitsarbeit nach.
Wissenschaftliche Forschung zur eigenen Geschichte eröffnet für das BfV auch die Chance, dass der gesellschaftliche Blick auf die Leistungen und die Gesetzmäßigkeit des Handelns des Verfassungsschutzes fällt. Das ist gerade angesichts der gestiegenen nachrichtendienstlichen Gefährdungslage für Deutschland von großer Bedeutung. Zudem ermöglicht der kritische und faktenbasierte Blick in die Vergangenheit, zukünftigen Generationen von Beschäftigten des BfV im Rahmen der Aus- und Fortbildung solides Hintergrundwissen zu vermitteln.
V. i. S. d. P.
Angela Pley, Pressesprecherin
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