Statement von BfV-Präsident Thomas Haldenwang zur Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2021
Datum
07.06.2022
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Frau Ministerin,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Presse,
die Vorstellung des Verfassungsschutzberichts ist für mein Haus jedes Jahr ein besonderer Termin. Ich freue mich, ihn heute das erste Mal mit Frau Ministerin Faeser vorstellen zu können.
Im Bundesamt für Verfassungsschutz arbeiten aktuell alle Abteilungen unter Hochdruck. Das BfV war in seiner Geschichte selten in dieser umfassenden Intensität gefordert wie gegenwärtig. Der Verfassungsschutzbericht 2021 spiegelt das auch in aller Deutlichkeit und in allen Phänomenbereichen wider. Er ist das Ergebnis harter Arbeit. Das sage ich im Hinblick auf meine Mitarbeiterschaft, der ich oft viel abverlangen muss.
Wie Frau Ministerin bereits herausgestellt hat: Der Rechtsextremismus ist nach wie vor die größte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung in Deutschland – sowohl für die Sicherheit aber insbesondere auch für die Demokratie. Wir beobachten in der Szene vor allem eine Internationalisierung und eine Virtualisierung.
Einige Aspekte möchte ich herausgreifen:
Das Personenpotenzial ist weiter angewachsen und liegt bei 33.900. Auch der Anteil der gewaltbereiten Rechtsextremisten ist gestiegen auf nunmehr 13.500. Deutlich mehr als jeder Dritte ist gewaltorientiert.
Die Zahl der antisemitischen Straftaten im Bereich Rechtsextremismus ist erneut gestiegen, und zwar um knapp über 12 Prozent auf nun 2.439.
Selbstradikalisierte einzeln agierende Täter stehen im besonderen Fokus unserer Arbeit – zumal dieser Personenkreis immer jünger wird: Dass sich Minderjährige gewaltaffin äußern und Pläne für Gewalttaten schmieden, ist keine Seltenheit mehr. Denn das Bedrohungspotenzial durch die wachsende Online-Vernetzung und -Radikalisierung der rechtsextremistischen Szene hat sich verstetigt. Wir stellen eine regelrechte Amoktäter-Fanszene fest, die Nachahmer sucht. Man diskutiert breit im Netz alle Fälle, die sich in den vergangenen Jahren ereignet haben und Mitdiskutanten grübeln darüber nach, wie man das Geschehene noch weiter toppen kann.
Eine Rolle spielt zunehmend auch die sogenannte „Siege“-Szene, englisch für Belagerung: Auf Basis einer rassistischen und antisemitischen Ideologie propagiert sie den Sturz des Systems – in Form eines „führerlosen Widerstands“ – und fordert gezielte terroristische Anschläge gegen Minderheiten und politische Repräsentanten. Auch diese stark im virtuellen Raum aktive Szene spricht besonders junge Menschen an.
Im Berichtsjahr beobachteten wir Versuche von Rechtsextremisten, Anschluss zu gewinnen an die Demonstrierenden gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. Insbesondere die rechtsextremistische Regionalpartei „Freie Sachsen“, die sich im Februar 2021 gegründet hatte, entwickelte sich zu einem wesentlichen Mobilisierungsakteur, insbesondere in den östlichen Bundesländern.
Die Neue Rechte agitiert unverändert mit Hass, Hetze und Polemik gegen den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie hat sich weiter untereinander vernetzt und trägt zur Radikalisierung innerhalb und außerhalb der Szene bei.
Das BfV hat in seinem Kampf gegen den Rechtsextremismus weitere bedeutende Zeichen gesetzt:
- Wir haben den Lagebericht „Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden“ nicht nur fortgeschrieben, sondern unsere Methodik nachgeschärft, um potentielle Netzwerke in Sicherheitsbehörden aufklären zu können und präventive Maßnahmen zu implementieren. Wir mussten feststellen, dass bei rund 60 Prozent der Personen, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen, Verbindungen in die rechtsextremistische Szene bestehen. Erwiesene Rechtsextremisten müssen aus den Sicherheitsbehörden in Deutschland entfernt werden.
- Wir haben das „Lagebild Antisemitismus“ neu aufgelegt, um die aktuellen Entwicklungen in den unterschiedlichen Phänomenbereichen zu beleuchten. Es ist erschreckend, dass antisemitische Narrative mitunter bis in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähig sind und als Bindeglied dienen können.
- Wir haben dazu beigetragen, dass der Waffenaffinität in der rechtsextremistischen Szene mit zahlreichen Entzügen von waffenrechtlichen Erlaubnissen entgegengewirkt wurde.
Das BfV hat in seinem Kampf gegen Rechtsextremismus im Vorfeld wesentliche Grundlagen geschaffen
- für zahlreiche Verurteilungen,
- Anklageerhebungen
- sowie für Exekutivmaßnahmen – beispielsweise gegen die „Vereinten Patrioten“ oder die „Atomwaffen Division Deutschland“.
Unsere Maßnahmen und unser entschlossenes Vorgehen machen uns auch international zu einem wichtigen Partner für die Bekämpfung des Rechtsextremismus. Das zeigt das Interesse internationaler Nachrichtendienste an unserer Expertise.
Kommen wir zu den „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“.
Ihr Personenpotenzial ist gestiegen und liegt bei 21.000:
- mehr als 5 Prozent, rund 1.150, sind auch rechtsextremistisch,
- 10 Prozent, das sind 2.100 Personen, gelten als gewaltorientiert.
Auch bei den „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ gab es im Berichtsjahr wieder zahlreiche mitunter gewalttätige Vorfälle, die die Bedrohung durch diese sehr heterogene Szene belegen:
- ob im Hessischen Linden, wo ein Polizist mit einer Armbrust beschossen wurde,
- die Schüsse auf Polizisten in Boxberg, Baden-Württemberg,
- oder die 2.000 Schuss Munition, die in Duisburg bei Exekutivmaßnahmen gefunden wurden.
Die Gewaltbereitschaft und der Rekurs auf verschiedene Verschwörungstheorien vermischen sich auch bei den „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ zu einer gefährlichen Verbindung, der wir durch Aufklärung und die Anregung von Waffenentzügen effektiv entgegentreten – mittlerweile wurden mindestens 1.050 Waffenerlaubnisse entzogen. Der Verfassungsschutz stellt sich hier dem legalen Waffenbesitz entgegen.
Meine Damen und Herren,
im Berichtsjahr hat das BfV ein neues Beobachtungsobjekt eingerichtet: „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“.
Hinter diesem etwas sperrigen Begriff werden Phänomene, Gruppierungen und Einzelpersonen in den Blick genommen, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür sprechen, dass sie
- wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung setzen
- oder die Funktionsfähigkeit des Staates beeinträchtigen bzw. dessen Gewaltmonopol infrage stellen wollen.
Ausgangspunkt für das neue Beobachtungsobjekt war die sehr heterogene Protest-Szene gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie,
- wo Verschwörungstheorien,
- das Schüren von antisemitischen Ressentiments
- und eine massive Gewaltbereitschaft gegen Polizei- und Ordnungsbehörden einen fruchtbaren Boden vorfanden.
Lassen Sie mich eines in aller Deutlichkeit unterstreichen:
Unser Interesse gilt nicht einer kritischen Haltung von Protestteilnehmern gegenüber den Bundes- und Landesregierungen, sondern den Gewaltaufrufen und Angriffen auf unsere Demokratie. Es ist der gesetzliche Auftrag des BfV, genau dort hinzusehen, wo diese Schwelle überschritten wird und aus Skepsis gegenüber dem Verfassungsstaat seine Bekämpfung wird.
Diese Bekämpfung durch Delegitimierer zeigt sich
- im Aufsuchen von Privatwohnungen von Politikerinnen und Politikern, die über sogenannte „Hausbesuche“ bedrängt und eingeschüchtert werden sollen,
- sie zeigt sich in Entführungs- und Mordplanungen, beispielsweise der Chatgruppe „Vereinte Patrioten“
- oder bei Gewalttaten und Aggressionen während der zahlreichen Protestkundgebungen.
- Die Gewalt gipfelte in der Tötung eines Mitarbeiters einer Tankstelle in Idar-Oberstein im September 2021.
In der Szene der Delegitimierer müssen wir insbesondere den virtuellen Raum in den Blick nehmen und die dortigen Entwicklungen analysieren. Denn das extremistische Personenpotenzial in diesem neuen Phänomenbereich ist thematisch flexibel und wird sich nach der Corona-Pandemie neuen anschlussfähigen Themen zuwenden. Wir sehen jetzt einen starken Rückgang solcher Protestaktivitäten, die Akteure suchen verzweifelt nach neuen anschlussfähigen Themen.
Wir beobachten schon jetzt, dass Protagonisten der Szene mit dem Abflauen des Corona-Protestgeschehens vermehrt den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine thematisieren. Gestiegene Lebenshaltungskosten oder die Klimapolitik der Bundesregierung könnten ebenfalls als Themen durch diese Demokratiefeinde aufgegriffen werden.
Meine Damen und Herren,
ich habe in den vergangenen Wochen wiederholt davon gesprochen, dass das Niveau der Spionageaktivitäten gegen Deutschland dem während des Ost-West-Konflikts bis 1990 in nichts nachsteht. Wir haben es mit einem klaren Systemwettbewerb zu tun!
Heutzutage kommen zur klassischen Spionage noch Cyberangriffe hinzu, die zum Standardwerkzeug zahlreicher Nachrichtendienste geworden sind gegen Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Forschung.
Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist in jedem Fall davon auszugehen, dass die nachrichtendienstliche Bedrohungslage perspektivisch zu- statt abnehmen wird.
Wir gehen aktuell von einem erhöhten Risiko von Cyber-Sabotage gegen kritische Infrastrukturen in Deutschland aus. Daher sensibilisiert und warnt das BfV – seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine – potentiell gefährdete Stellen in Deutschland und stellt seine Expertise, wo immer gefragt, zur Verfügung.
Auch Proliferationsbemühungen und Versuche, Sanktionen zu umgehen, werden in der nächsten Zeit eher zu- statt abnehmen.
Zugute kommt uns in der Spionageabwehr, dass sich das BfV mit diesen Themen kontinuierlich und mit großem Nachdruck beschäftigt hat:
- Unsere Erfolge zeigen sich nicht nur in den seit Jahren steigenden Ermittlungsverfahren beim Generalbundesanwalt.
- Russische Desinformation und Einflussnahme haben wir bereits während der Corona-Pandemie und auch im Zusammenhang mit der letzten Bundestagswahl intensiv bearbeitet.
Kommen wir zum Linksextremismus.
Auch hier hat sich das Personenpotenzial auf hohem Niveau gefestigt und liegt bei aktuell 34.700. Mehr als jeder vierte Linksextremist ist gewaltorientiert – hier gab es eine Steigerung von über 7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf nunmehr 10.300 gewaltorientierte Linksextremisten!
Im Fokus der gewaltorientierten Linksextremisten stehen nicht nur Polizistinnen und Polizisten, sondern seit Beginn des Krieges in der Ukraine zunehmend auch Rüstungsunternehmen und die Bundeswehr. Das Thema „Antimilitarismus“ hat in der linksextremistischen Szene an Bedeutung gewonnen und wir müssen mit weiteren Aktionen rechnen.
Massive Gewalt wird auch gegen tatsächliche oder als solche ausgemachte Rechtsextremisten ausgeübt sowie gegen Polizisten.
Gegen Polizisten gab es ein versuchtes Tötungsdelikt und 182 Körperverletzungsdelikte von Linksextremisten. Sachbeschädigungs- und Brandstiftungsdelikte gefährden nicht nur Menschenleben, sondern verursachen auch einen Schaden in Millionenhöhe.
Das zentrale Kommunikations- und Propagandamedium von Linksextremisten, die Internetplattform „de.indymedia“, wird vom BfV nunmehr als gesichert extremistische Bestrebung bearbeitet.
Damit das Gipfeltreffen der G7 auf Schloss Elmau in zweieinhalb Wochen sicher und störungsfrei durchgeführt werden kann, arbeitet das BfV mit seinen nationalen und internationalen Partnern eng zusammen. Wir müssen dennoch mit bundesweiten Resonanzstraftaten rechnen.
Kommen wir zum islamistischen Terrorismus:
Das Islamismuspotenzial in Deutschland lag im Jahr 2021 bei 28.290 Personen. Die salafistische Szene hat ihre Sichtbarkeit zwar verringert, ihr Gefährdungspotenzial als Unterbau für den gewaltbereiten Jihadismus jedoch behalten. Ihr gehören in Deutschland 11.700 Personen an.
Wir bearbeiten im BfV aktuell eine Vielzahl von Gefährdungssachverhalten. Die Lage wird insbesondere durch Kleingruppen und allein handelnde Täter dominiert, die durch Internetpropaganda gewonnen und radikalisiert werden.
Weitere Gefahren liegen
- in den Krisenherden in Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten, die der Nährboden für eine islamistische Mobilisierung sein können,
- in den Haftentlassungen von islamistischen Straftätern aus deutschen Gefängnissen
- sowie in den Bestrebungen des IS, al-Qaida und deren regionalen Ablegern, sich in sogenannten „Freiräumen“ zu reorganisieren – was unbedingt durch die internationale Gemeinschaft durchkreuzt werden muss.
Das BfV bekämpft mit seinen nationalen und internationalen Partnern die weltweite Terrorismusfinanzierung und war beteiligt an Verboten des Bundesinnenministeriums, die gegen drei Ersatzorganisationen des „Waisenkinderprojekts Libanon“ und gegen „Ansaar International“ ausgesprochen wurden.
Meine Damen und Herren,
Sicher haben Sie in meinen Ausführungen ein Thema vermisst, das neuere Entwicklungen im parlamentarischen Raum betrifft, aber wegen gerichtlicher Auseinandersetzungen noch nicht im Verfassungsschutzbericht 2021 abgebildet werden konnte:
Die Alternative für Deutschland ist mittlerweile ein gerichtlich bestätigter Verdachtsfall einer extremistischen Bestrebung. Ich begrüße die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Köln vom März dieses Jahres, wonach die Bewertung und Einstufung der AfD als Verdachtsfall auf einer nicht zu beanstandenden Gesamtbetrachtung des BfV beruhe. Das wird auch noch einmal deutlich aus der Urteilsbegründung, die vor wenigen Wochen den Parteien zugestellt worden ist. Da gab es insoweit nichts zu beanstanden, was die Bewertung und Arbeitsweise des BfV angeht.
Diese Entscheidungen ermöglichen es dem BfV, den Verdachtsfall AfD auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu bearbeiten. Wir prüfen genau, ob sich die bestehenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung weiter verdichten. In einer Woche werden wir weiter Gelegenheit haben, die Entwicklungen dieser Partei anlässlich des Parteitages sehr genau unter die Lupe zu nehmen.
Meine Damen und Herren,
dieser kurze Überblick zeigt: Die Sicherheitslage in Deutschland ist angespannt. Es gibt reale Bedrohungen – aus sehr unterschiedlichen Bereichen – für unsere Demokratie und die Freiheit und Sicherheit der Bevölkerung.
Auffällig ist dabei die in nahezu jedem Phänomenbereich anzutreffende Ausbreitung von Desinformation. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese durch Richtigstellungen und Aufklärung zu neutralisieren.
Ich bin dankbar für den Rückenwind, den das BfV in seiner Arbeit durch die Bundesinnenministerin Faeser und den parlamentarischen Raum erhält.
Die deutschen Sicherheitsbehörden zeigen, dass sie auch unter den Bedingungen der Pandemie und eines Krieges in Europa in alle Richtungen handlungsfähig sind.
Vielen Dank.