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Statement von BfV-Präsident Thomas Haldenwang zur Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2022

Datum 20.06.2023

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Frau Bundesministerin,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Presse,

bevor ich auf den vorliegenden Verfassungsschutzbericht 2022 eingehe, lassen Sie mich einige Trends vorwegschicken, die wir seit geraumer Zeit beobachten. Da sie fast alle Phänomenbereiche gleichermaßen betreffen, machen sie die Erfüllung unseres gesetzlichen Auftrags immer vielschichtiger und anspruchsvoller. Was meine ich?

  • Die Zahl gewaltorientierter Extremisten steigt.
  • Zum Teil werden die Extremisten immer jünger.
  • Sie sind weniger ideologisch festgelegt und basteln ihr Weltbild nach einem Baukastenprinzip mit Versatzstücken aus dem Internet zusammen.
  • Die Grenzen zwischen bislang ideologisch festgelegten Lagern verschwimmen punktuell und machen eine genaue Verortung in einem Lager schwieriger.
  • Extremisten instrumentalisieren Krisen, um Anschlussfähigkeit in der Mehrheitsgesellschaft zu finden.
  • Spionage, Cyberangriffe und Einflussnahmeversuche ausländischer Nachrichtendienste sind aggressiver und ausgefeilter geworden.

Diese Trends werden uns und unsere Arbeit auf längere Zeit in den kommenden Jahren prägen.

Aber nun zum Berichtsjahr: Wenn man zukünftig auf das Jahr 2022 zurückblickt, dann wird man es als das Jahr bezeichnen, in dem der Krieg nach Europa zurückkehrte. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist in der medialen Öffentlichkeit omnipräsent und wirkt sich auf das Leben jedes einzelnen aus.

Insofern kann es überhaupt nicht überraschen, dass die Auswirkungen des Krieges auf die Arbeitsfelder des Verfassungsschutzes im vergangenen Jahr ebenfalls beachtlich waren. Auf der Basis des neuen Verfassungsschutzberichts möchte ich drei wesentliche Gefahren für unsere freiheitliche Gesellschaft hervorheben:

  1. die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs;
  2. den Rechtsextremismus als größte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung – wie Frau Ministerin auch schon ausgeführt hat
  3. das Problem steigender extremistischer Gewaltorientierung

Zu Punkt 1: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine beeinflusst in vielen Bereichen unmittelbar und intensiv die Arbeit meines Hauses:

So haben sich die Gefährdungen durch russische Spionageaktivitäten gegen Deutschland nochmals vergrößert.

Bereits vor dem aktuellen Konflikt hat das BfV immer wieder, auch öffentlich, vor nachrichtendienstlichen Operationen Russlands gewarnt. Wegen dieser Gefährdungslage hatten wir auch in der Vergangenheit unsere Cyber- und Spionageabwehr personell und organisatorisch deutlich gestärkt.

Als Reaktion auf den russischen Angriff hat die Bundesregierung im Berichtsjahr 40 russische Diplomaten ausgewiesen. Sie waren Angehörige von russischen Nachrichtendiensten in Deutschland. Die Bundesregierung verfolgt auch weiter mit energischen Maßnahmen das Ziel, das Agieren russischer Dienste in Deutschland zu verringern – wie Frau Faeser eben auch schon ausgeführt hat und man hat ja auch in diesem Jahr bereits die Ausreise verschiedener russischer Diplomaten wahrgenommen.

Auch wenn solche Maßnahmen kurzfristig Wirkung, deutliche Wirkung, erzielen, wird Russland seine Methoden anpassen und zukünftig klandestiner und aggressiver vorgehen. Dazu könnte etwa der Einsatz von sogenannten Illegalen, also mit falscher Identität eingeschleuste Nachrichtendienstoffiziere, aber auch verstärkte Cyberangriffe bis hin zu Sabotageaktionen gehören.

Aufgrund der illegitimen Beeinflussung der deutschen Öffentlichkeit durch das Streuen von Desinformation und Propaganda wirkt sich der russische Angriffskrieg auch auf extremistische Agitationen in Deutschland aus:

Prorussische Gruppen in Deutschland diskutierten kontrovers über den Angriff auf die Ukraine. Dabei wurden in sozialen Netzwerken und bei öffentlichen Veranstaltungen auch extremistische Inhalte verbreitet, die den völkerrechtswidrigen Krieg billigten und die Narrative der russischen Regierung rechtfertigten und verteidigten.

Linksextremisten verurteilen den Angriff auf die Ukraine zwar überwiegend scharf, allerdings machen Teile der Szene nicht alleine Russland als Aggressor verantwortlich. Sondern vielmehr bezeichnen sie die NATO, die USA und generell „den Westen“ oder „den Imperialismus“ als Verursacher des Krieges. Wenig überraschend nutzen gewaltorientierte Linksextremisten den Angriffskrieg als Anlass für Straftaten

• gegen Rüstungsunternehmen,
• gegen die Bundeswehr
• und Parteien politischer Entscheidungsträger.

Zudem gibt es viele Beispiele, bei denen Extremisten in Deutschland russische Desinformation und Narrative prorussischer Propaganda

• aufgreifen,
• weiterverarbeiten
• und in ihrer Wirkung verstärken.

Dazu gehören unter anderem Akteure, die sich zuvor an den Protesten gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen beteiligt haben. Zum Beispiel das rechtsextremistische „COMPACT“-Magazin, das über den Angriff auf die Ukraine dezidiert prorussisch berichtet. Oder auch die rechtsextremistische Regionalpartei „Freie Sachsen“, die gesellschaftliche Konfliktthemen im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg instrumentalisiert und den vermeintlich übergriffigen deutschen Staat als Grundübel diffamiert. Ziel dieser Protestszene war es, aggressive und staatsdelegitimierende Hetze in die Mehrheitsgesellschaft zu tragen und einen „Heißen Herbst“ heraufzubeschwören, der in einem „Wutwinter“ gipfeln sollte. Es gelang diesen Provokateuren jedoch nicht, flächendeckend für ihre Aktionen zu mobilisieren.

Der Rechtsextremismus bleibt dabei die größte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung und auch die Sicherheit.

Nach den pandemiebedingten Einschränkungen ließ sich im vergangenen Jahr wieder ein Anstieg bei den meisten Aktivitäten von Rechtsextremisten erkennen, zum Beispiel im Bereich der Demonstrationen oder der Musikveranstaltungen.

Das rechtsextremistische Personenpotenzial – Frau Ministerin hat es ausgeführt – ist im Berichtsjahr deutlich gestiegen. Da wir die AfD mittlerweile wie Sie alle wissen als Verdachtsfall bearbeiten, haben wir erstmals einen Teil ihrer Mitglieder dazu gezählt – und zwar unabhängig von der Anhängerschaft zum ehemaligen „Flügel“ oder der Mitgliedschaft in der im Berichtszeitraum als Verdachtsfall bearbeiteten „Jungen Alternative“.

Mit der kürzlich vorgenommenen Einstufung des „Instituts für Staatspolitik“ und des Vereins „Ein Prozent“ als gesicherte rechtsextremistische Bestrebungen widmet sich das BfV weiterhin intensiv der Aufklärung des informellen Netzwerks der Neuen Rechten. Zu ihm gehören unter anderem auch die „Identitäre Bewegung Deutschland“ und das „COMPACT-Magazin“. Die Vertreter der Neuen Rechten verbreiten ein ethnokulturelles Weltbild, das durch die Favorisierung von ethnisch homogenen Staatsvölkern letztlich doch fremdenfeindlich und einfach nur rassistisch ist.

Durch gezielte Agitation im vorpolitischen Raum wollen diese Akteure – wie sie es nennen – eine „Gegenöffentlichkeit“ und eine „Kulturrevolution von rechts“ schaffen. In Wahrheit ist das nichts anderes als ein Angriff auf unsere liberale und pluralistische Gesellschaft, der unvereinbar ist mit zentralen Werten unseres Grundgesetzes.

Erstmals enthält der Jahresbericht ein Kapitel über Siedlungsbestrebungen von Rechtsextremisten. Bei solchen Siedlungsbestrebungen versuchen sie, kleinere Gebiete zu vereinnahmen, um sich Rückzugsräume zu schaffen, in denen sie ungestört mit Gleichgesinnten ihre völkisch-nationalistischen Vorstellungen leben können. Beispiele für ein solches Vorgehen stellen der Verdachtsfall „Anastasia-Bewegung“ und das rechtsextremistische Netzwerk „Initiative Zusammenrücken“ dar.

Nun komme ich zu einem weiteren Punkt: die extremistische Gewalt. Über das Denken kommt man zum Reden und danach zum Handeln. Verbaler Extremismus führt in schlimmster Konsequenz zu extremistischer Gewalt, meinem dritten Punkt.

Die Zahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten ist erneut angestiegen, das vierte Mal infolge, auf nunmehr 14.000 Personen.

Eine enorme Herausforderung bleiben Täter, die sich abseits von rechtsextremistischen Szenestrukturen selbst radikalisieren. In anonymen Chatgruppen – teils mit mehreren Tausend Mitgliedern – werden extreme Gewaltfantasien bis hin zu Mordaufrufen verbreitet.

Mit Sorge beobachten wir, dass sich im Internet auffällig junge und besonders gewaltaffine Akteure in Chatgruppen mit rechtsextremistischen Bezügen vernetzen und Rechtsterroristen wegen ihrer Anschläge verherrlichen. In dieser sogenannten „Attentäter-Fanszene“ werden nicht selten eigene Anschlagsvorhaben und andere Gewaltfantasien geteilt und sich gegenseitig angestachelt. Potenzielle Attentäter von Maulhelden zu unterscheiden und trotz der Anonymität im Internet zu demaskieren, das ist die anspruchsvolle und mühsame Aufgabe der Sicherheitsbehörden.

Im Bereich der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ möchte ich die umfassenden Exekutivmaßnahmen gegen eine Gruppierung hervorheben, die im Verdacht steht, auch mit Waffengewalt geplant zu haben, die staatliche Ordnung in Deutschland zu stürzen, um eine eigene Herrschaftsstruktur zu etablieren.

Sie verfügte über

  • Schusswaffen,
  • Personen, die in der Lage sind, sie einzusetzen,
  • und Ortskenntnisse sogar im Deutschen Bundestag.

Diese „Reichsbürger“-Gruppierung ist ein prägnantes Beispiel für eine Entgrenzung zwischen einzelnen Phänomenbereichen, weil sie personelle und ideologische Überschneidungen zum Rechtsextremismus und dem Bereich der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ zeigt, die durch verschiedene Verschwörungsnarrative ergänzt werden.

Diese reale Gefahr frühzeitig erkannt und gebannt zu haben, ist ein Beleg für die besonders gute Zusammenarbeit ja fast kann man sagen aller Sicherheitsbehörden in Deutschland.

Das Gefährdungspotenzial, das von „Reichsbürgern“ ausgeht, wird untermauert von

  • der hohen Waffenaffinität der Szene,
  • der steigenden Anzahl von gewaltorientierten „Reichsbürgern“
  • und dem tatsächlichen Einsatz von Gewalt zum Beispiel bei staatlichen Maßnahmen

Und auch Frau Ministerin hat es ausgeführt. Im Linksextremismus nehmen wir eine steigende Gewaltorientierung wahr. Im letzten Jahr ist die Zahl gewaltorientierter Linksextremisten um knapp 5 Prozent auf 10.800 Personen gestiegen. Auch wenn die Gewalttaten zahlenmäßig zurückgegangen sind, besteht hier weiterhin ein hohes Gefährdungspotenzial. In Teilen des sogenannten „antifaschistischen Kampfes“ sehen wir bei einzelnen besonders schweren Angriffen enthemmte Gewalt und Brutalität. Sie richten sich gegen „Faschisten“ oder Personen, die Linksextremisten als „Faschisten“ ansehen. Verübt werden sie von professionell organisierten und im Verborgenen operierenden Kleingruppen. Die Täter gehen brutal vor und fügen ihren Opfern teils schwerste Verletzungen zu. Dass hier noch kein Mensch zu Tode gekommen ist, das ist eigentlich nur glücklichen Umständen zu verdanken.

Wegen solcher Angriffe standen Lina E. und drei weitere gewaltbereite Linksextremisten in Dresden vor Gericht und wurden eben dann auch zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Dieser Strafprozess entfaltete eine besondere Bedeutung dann wiederum für die linksextremistische gewaltorientierte Szene. Im Berichtsjahr gab es regelmäßig Solidaritätsaktionen und Straftaten in diesem Kontext. Die Krawalle und Straftaten nach der Urteilsverkündung belegen dies und untermauern einen Teil des erheblichen Gefährdungspotenzials, das vom gewaltorientierten Linksextremisten ausgeht.

Und ich spreche eben über gewalttätige Gruppen und darf eben auch die Islamisten nicht außer Betracht lassen. Im vergangenen Jahr konnten allerdings zunächst gegen den islamistischen Terrorismus international und national wieder viele Erfolge auch erzielt werden. Hier in Deutschland gab es im Jahr 2022 glücklicherweise keine gesichert islamistischen Terroranschläge. Dennoch: Die Gefahr besteht fort. Sie ist real, jeden Tag real.

Denn nach wie vor sind regional oder global agierende jihadistische Gruppierungen in der Welt aktiv, zum Beispiel in afrikanischen Konfliktregionen. In Afghanistan und Pakistan macht der IS-Ableger „Islamischer Staat – Provinz Khorasan“ (ISPK) – diesen Begriff sollten Sie sich merken – mit Anschlägen von sich reden. Perspektivisch kann diese Gruppe aus Afghanistan versuchen, Anschläge gegen westliche Länder, auch gegen Deutschland, zu planen und durchzuführen, um sich zu profilieren.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.

Es war ein intensives und arbeitsreiches Berichtsjahr 2022, in dem wir uns eben insbesondere

  • mit den Auswirkungen des Angriffs auf die Ukraine,
  • dem Rechtsextremismus
  • und dem gewaltorientiertem Extremismus zu befassen hatten.

Deshalb dürfen und werden wir nicht nachlassen bei unserem Kampf gegen diese Phänomene in Deutschland, aber auch nicht bei der angesprochenen Cyber- und Sabotage- und Spionageabwehr.

Hervorheben möchte ich den großen und unermüdlichen Einsatz meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mein Dank gilt den politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern, insbesondere Frau Bundesministerin, die das BfV und seine Arbeit wertschätzen und uns unterstützen dabei.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!