Eröffnungsrede von BfV-Präsident Thomas Haldenwang zur 2. Wissenschaftskonferenz des Bundesamtes für Verfassungsschutz am 5. September 2023 in Berlin
„Meinungsbildung 2.0 – Strategien im Ringen um Deutungshoheit im digitalen Zeitalter“
Datum
05.09.2023
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Frau Menon,
herzlichen Dank für die freundlichen Worte zur Eröffnung der 2. Wissenschaftskonferenz, denen ich mich sehr gerne anschließen möchte.
Mit Spannung blicken wir auf ein äußerst vielversprechendes Programm – mit kompetenten Teilnehmerinnen und Teilnehmern.
Und mit Freude nehmen wir das rege Interesse der Zuhörerschaft zur Kenntnis – sei es analog vor Ort oder aus der Ferne in digitaler Form.
Das Stichwort der digitalen Teilnahme führt uns sofort in das Zentrum der Konferenz. Dieses Jahr richten wir unser Augenmerk auf die komplexen Mechanismen individueller und kollektiver Meinungsbildungs-Prozesse im Digitalzeitalter.
Es ist ein Thema von enormer Relevanz, denn unsere freiheitliche demokratische Grundordnung adelt und garantieret die
- Freiheit der Meinung
- sowie das Recht, sie auch öffentlich kundzutun.
Damit wird einmal mehr deutlich: Demokratie ist
- Konflikt und Disput,
- Auseinandersetzung und Rivalität!
Die Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger ist nur dann wirklich und wahrhaftig, wenn
- Meinungsvielfalt,
- Widerspruch,
- Opposition
- und der Wettbewerb von Partikularinteressen als legitim und bereichernd erachtet werden.
Folglich liegt die Grundlage der Meinungsfreiheit ganz wesentlich in der Freiheit zur qualifizierten Meinungsbildung.
Dafür braucht es allerdings
- allgemein anerkannte Verfahren der Entscheidungsfindung,
- frei zugängliche Informationen
- und einen Minimal-Konsens über evidenzbasierte Fakten.
Und an dieser Stelle offenbart sich die enorme Brisanz unseres Konferenz-Themas, insofern wir die teilweise dramatischen Auswirkungen der sogenannten Informationsgesellschaft – die oftmals eher als Desinformationsgesellschaft erscheint – auf Meinungsbildungs-Prozesse betrachten werden.
Wir fokussieren ein Phänomen, das zweifellos eine gesamtgesellschaftliche Tragweite besitzt und momentan durch die galoppierenden Entwicklungsschritte im Bereich der Künstlichen Intelligenz in aller Munde ist.
Während die Internetpropheten des Silicon Valley mit ihren gleißenden Verheißungen einer utopischen Zukunft lange Zeit den Diskurs dominierten, haben Sicherheitsbehörden bekanntlich früh auf die Schattenseiten aufmerksam gemacht.
Als Nachrichtendienst bewertet der Verfassungsschutz die Digitalisierung zwar nicht nach moralischen Kriterien oder ökonomischen Interessen.
Als Frühwarnsystem unserer Demokratie schlägt unser Bundesamt jedoch Alarm, wenn disruptive Technologien in den Händen von Extremisten, Terroristen, fremden Geheimdiensten und hybriden Aggressoren zu potenten Mitteln der
- Spionage,
- Sabotage,
- Einflussnahme
- und Propaganda werden.
Ihre große Bedeutung für Sicherheitsbehörden ergibt sich aus genau diesem ambivalenten Dual-Use-Charakter:
- Konstruktiv eingesetzt erhöht die Digitalisierung unseren technischen Fortschritt, täglichen Komfort und Wohlstand.
- Destruktiv eingesetzt produziert und streut sie wirkmächtige Angriffswerkzeuge.
Denn Digitaltechnik ist nicht mehr exklusiv, sondern bedient kostengünstig und nutzerfreulich den Massenmarkt.
Der einzelne Nutzer kann auf x-beliebigen Plattformen x-beliebige Identitäten annehmen. Er kann global und verschlüsselt kommunizieren. Er ist nun auch Autor x-beliebiger Inhalte für x-beliebige Empfänger.
Daneben gehören Technologie-Konzerne heute zu den wertvollsten Unternehmen, deren Umsätze größer sind als das Bruttosozialprodukt mancher Staaten. Sie sind Taktgeber der weltweiten digitalen Transformation.
Als neue, machtvolle Player verstehen sie sich als Transporteure von Informationen – und wollten lange Zeit nur ungern die redaktionelle Prüfung der Inhalte übernehmen. Dabei können ihre Algorithmen bekanntlich nicht nur Datenströme lenken, sondern auch die Willensbildung.
Allzu oft schöpfen sie lediglich Meinungen ab und streuen diese nach Kriterien, die entweder nach Attraktion und Emotion sortieren – oder gleich ganz im Verborgenen liegen.
Zugleich sinkt die Hemmschwelle für eine drastische Verrohung der Sprache; für Hass und bis extremistische Parolen, die allein attackieren statt zu argumentieren.
Entsprechend verändern sich im Gleichschritt mit den genannten technischen und sozialen Transformationen auch Erscheinungsformen des Extremismus. Die enorm gestiegene Verbreitung von verschwörungstheoretischem Denken durch das Internet ist ein Phänomen, das sich im Zuge der Covid-19-Pandemie nochmals verschärfte.
Messengerdienste und verschlüsselte Chatgruppen sind Geburtsstätten für Parallelwelten, in denen Extremismus gedeihen kann, der nicht mehr zwangsläufig auf ideologisch konsistenten Fundamenten ruht.
Wenn es nicht so gefährlich wäre, könnte man sich fast darüber amüsieren, was erwachsene Menschen im Internet für eine Phantasie zustande bringen. Der Sturm auf das Kapitol in den USA zeigte jedoch in drastischen Bildern, wohin
- aufgeheizter Irrglaube,
- Falschinformationen,
- Verschwörungstheorien
- und pseudo-apokalyptischer Polit-Aktivismus führen können.
Das amorphe Erscheinungsbild des antidemokratischen Mobs im Kapitol war auch ein Spiegelbild der Dunkelkammern des Internets, in dem sich
- Frustration,
- Desinformation,
- hasserfüllte Agitation
- und Verschwörungstheorien gefährlich verrühren können.
Bevor solche roten Linien gewaltsam überschritten werden, muss viel passieren: Es müssen
- die Würde der Demokratie und des Rechtsstaates delegitimiert,
- das Vertrauen in ihre Handlungsfähigkeit unterminiert
- und der Glaube an den faktenbasierten Diskurs torpediert werden.
Es muss aus dem politischen Gegner der Feind werden – und aus dem politischen Streit der Kampf gegen das System.
Es muss aus dem Kampf um die besseren Argumente der Angriff auf die Wahrheit werden – und aus der Lüge der imaginierte Notstand, um die Gewalt zu beschwören.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
- wenn der Verrat an der Wahrheit –
- die Macht der Lüge –
- und die Sprache der Gewalt die unheilvollen Boten von Extremismus und Autoritarismus sind, stellt sich noch einmal die Frage nach dem Kriterium der sogenannten „Wahrheit“ für die Demokratie.
Die große Politik- und Demokratietheoretikerin Hannah Arendt überrascht mit der Feststellung, dass – Zitat:
„Wahrhaftigkeit nie zu den politischen Tugenden gerechnet worden [ist], weil sie in der Tat wenig zu dem eigentlichen politischen Geschäft – der Veränderung der Welt und der Umstände, unter den wir leben – beizutragen hat.“
Als Zeitzeugin des Totalitarismus schränkt sie jedoch ein, dass sich dies ändere, falls – Zitat:
„ein Gemeinwesen im Prinzip sich der Lüge als politische Waffe bedient […] In einer Welt, in der man mit Tatsachen nach Belieben umspringt, ist die einfachste Tatsachenfeststellung bereits eine Gefährdung der Machthaber. […] Das prinzipielle Lügen kann erreichen, dass die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit überhaupt aus dem Bewusstsein der Menschen verschwindet.“ – Zitat Ende
Die traurigen aktuellen Zustände in autoritären Regimen, wo etwa faschistoide Angriffskriege zu Anti-Faschismus deklariert werden und wo bereits stumme Gesten des Protestes zur Verhaftungen führen, belegen die Dringlichkeit dieser wahren Worte!
Auch Jürgen Habermas – der große Apologet und Stichwortgeber der Deliberativen Demokratie sieht zurecht den Wert des demokratischen Diskurses keineswegs in der Fähigkeit, absolute Werte und Wahrheiten zu produzieren; – ist es doch gerade die Tugend der Demokratie, auf absolute Sinnstiftungen zugunsten der individuellen Meinungsbildung und Entfaltung zu verzichten.
Doch mit Sorge blickt er auf den revolutionären Charakter der sogenannten neuen Medien.
Durch deren redaktionslosen Plattformcharakter entstünden konkurrierende Öffentlichkeiten – und damit der Verlust jener gemeinsamen Agora , die als Arena für Interessenskonflikte zwingend erforderlich ist.
Damit unterstreicht auch Habermas den diskursiven Charakter der Demokratie. Gerade die modernen Demokratien seien dafür auf Massenmedien angewiesen.
Sie sind nötig, um die politische Autonomie des Einzelnen durch Teilhabe an einem gemeinsamen Informationsraum in die Willensbildung aller Staatsbürger einzubeziehen.
In den pluralistischen Gesellschaften des Westens, die
- sich zunehmend individualisieren,
- einheitsstiftende Weltbilder ablegen
- und damit metasoziale Quellen der Legitimation verlieren, brauche es gerade mehr denn je inklusive Kommunikation durch Massenmedien!
Paradoxerweise könnten die neuen Medienformate diese Funktion in Teilen übernehmen, wenn ihre Konstruktion dem nicht zuwiderlaufen würde. Denn Habermas konstatiert den Plattformen allenfalls eine „eine plebiszitäre Halböffentlichkeit“.
Durch ihre rein technologisch und ökonomisch betriebene Infrastruktur konstruieren sie sich nicht nach den Regeln des Diskurses, sondern hin zu selbsttragenden Echoräumen.
Ein Symptom dieser deformierten, parallelen Halböffentlichkeiten sei die Doppelstrategie des Ausstreuens von Fake News – bei gleichzeitigem Kampf gegen die sogenannte Lügenpresse.
Habermas warnt uns vor dem Nachlassen der rationalisierenden Kraft der öffentlichen Auseinandersetzung in den Demokratien des Westens. Sie verlören zunehmend die Fähigkeit, echte Interessensgegensätze
- abzubilden,
- diskursiv zu problematisieren
- und aufzulösen.
Halten wir – meine Damen und Herren – also fest:
- Nicht die Existenz von Interessensgruppen ist ein Problem, sondern die Fragmentierung der gemeinsamen Öffentlichkeit in deformierte Parallelwelten.
- Nicht der politische Dissens ist die Gefahr, sondern die Politisierung von evidenzbasierten Tatsachen.
- Und nicht der Streit ist besorgniserregend, sondern der Verlust einer gemeinsamen Ausgangslage, über deren Auswege man streiten könnte!
Hier sehen wir das Lindenblatt zwischen den Schulterblättern der Demokratie – einen wunden Punkt, den ihre Feinde attackieren können. Und sie tun es!
Das urdemokratische Prinzip der Mehrheitsentscheidung ist anfällig für Emotionalisierung und Skandalisierung – weswegen diese entsprechend gern von Extremisten bedient werden.
Sie favorisieren oftmals das direkte Plebiszit. Sie politisieren Fakten, um sie zugleich als politisch motiviert relativieren zu können. Im vermeintlichen Namen des Volkes reiten sie Attacken gegen das sogenannte Establishment, um die repräsentative Demokratie zu schleifen.
Dies erklärt ihren oftmals auffallenden Anti-Intellektualismus, denn sie wollen die Bürde zurückweisen, dass sich Politik auch durch Rationalität legitimieren muss.
Jedem autoritären Geist kann die freie Wissenschaft nur ein Dorn im Auge sein – da auch sie die Macht hinterfragt und begrenzt.
Ja, – bei einer Wissenschaftskonferenz darf man sich dieses pathetische – jedoch berechtigte – Loblied erlauben und in den Worten des Soziologen Peter Weingart festhalten – Zitat:
„Ihr kritisches Potential macht die Wissenschaft zu einer Säule der Demokratie.“ – Zitat Ende
Der transparente und kontroverse Austausch auf Basis seriöser Forschung und Methodik ist das Gegenprogramm zu ideologisch motivierter Propaganda und Fake News.
Auf diese Weise realisieren wir auch durch diese Konferenz jene rationalisierende Kraft, die Habermas für die Demokratie zurückfordert – und die es benötigt, um ein großes, sicherheitsrelevantes Gesellschaftsthema
- abzubilden,
- diskursiv zu problematisieren
- und konstruktiv aufzulösen.
Wir werden Einblicke in Lagebilder und Analysen durch Praktiker aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz erhalten – zum Beispiel zum strategischen Einsatz von Desinformation durch fremde Mächte und ihre Nachrichtendienste.
Wir werden
- Studienergebnisse erfahren,
- methodische Ansätze kennenlernen
- und Kontakte knüpfen können.
Deshalb danke ich dem Zentrum für Analyse und Forschung für die Bereitstellung dieser Plattform und die Organisation eines facettenreichen Programms mit
- vielen Vorträgen,
- Panels
- und Gelegenheiten, ins Gespräch zu kommen.
Die Konferenz möchte in Form und Inhalt auch zum Ausdruck bringen, dass der Auftrag und die Intention unseres Nachrichtendienstes in vielerlei Hinsicht deckungsgleich ist mit der freien Wissenschaft!
Auch wir wollen mit valider Methodik und ergebnisoffenem Ansatz gesicherte Erkenntnisse gewinnen.
Auch wir wollen uns hinterfragen, austauschen und weiterentwickeln, um bestmögliche Ergebnisse für die wehrhafte Demokratie zu erzielen.
Deren Schutz sollte unser aller Anliegen sein.
Ich danke Ihnen daher für Ihre Aufmerksamkeit – und gebe die Bühne frei für die Wissenschaftskonferenz 2023.