Statement von BfV-Präsident Thomas Haldenwang zur Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2023
Datum
18.06.2024
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Frau Bundesministerin Faeser,
sehr geehrter Herr Detjen,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Presse,
auch für das Berichtsjahr 2023 hat der Verfassungsschutz zur Sicherheitslage nicht viel Positives zu vermelden.
Diverse Negativtrends, über die ich an dieser Stelle bereits im Vorjahr berichtete, haben sich bestätigt und fortgesetzt. In allen Arbeitsfeldern meines Hauses erleben wir eine äußerst hohe Auslastung und komplexe Herausforderungen. Demgegenüber stehen aber auch regelmäßig nachhaltige Erfolge, die wir in enger Zusammenarbeit mit anderen Sicherheitsbehörden erreichen.
Ich möchte zu Beginn einige Entwicklungstendenzen benennen, die für das Berichtsjahr 2023 prägend waren:
- Äußere und innere Sicherheit hängen unmittelbar zusammen. Im Kontext des russischen Angriffs auf die Ukraine waren wir im Berichtsjahr stark und unmittelbar konfrontiert mit vielfältigen Aktivitäten der russischen Nachrichtendienste in und gegen Deutschland.
- Durch den menschenverachtenden Terrorangriff der HAMAS auf Israel eskalierte ein weiterer Konflikt jenseits unserer Grenzen mit direkten Auswirkungen auf die innere Sicherheit.
- Dadurch erhöhte sich das bereits seit Monaten gestiegene Gefährdungspotenzial durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland noch weiter.
- Zudem wirkte der Nahostkonflikt wie ein Brandbeschleuniger auf den Antisemitismus in Deutschland.
- Die Vernetzungsaktivitäten der sogenannten Neuen Rechten haben weiter zugenommen. Die Bedeutung dieser Akteure für die Binnenstruktur der rechtsextremistischen Szene steigt.
- Die von gewaltbereiten Linksextremisten ausgehenden Gefahren sind unvermindert hoch. Das zeigen gut geplante, brutale Angriffe auf politische Gegner, erhebliche Gewalt gegen die Polizei sowie schwere Brandanschläge auf Unternehmen und Kritische Infrastruktur.
- Und zuletzt: Die Zahl der Extremisten ist erneut in fast allen Phänomenbereichen gestiegen, genauso wie die Zahl der gewaltorientierten Extremisten.
Aber lassen Sie mich nach diesen Schlaglichtern mehr ins Detail gehen:
Das Gefährdungspotenzial, das von russischen Nachrichtendiensten ausgeht, ist nach wie vor hoch. Russland arbeitet fortgesetzt daran, die im letzten Jahr durch die Bundesregierung veranlasste Reduzierung seines nachrichtendienstlichen Personals zu kompensieren.
Auch mit Cyberangriffen gegen Einzelpersonen, Organisationen oder Regierungseinrichtungen versucht sich Russland kontinuierlich Informationen zu beschaffen. Eine weitreichende Cyberangriffskampagne richtete sich 2023 gegen hochwertige Ziele in Wirtschaft und Politik, unter anderem gegen den Parteivorstand der SPD. Dieser Angriff wurde mittlerweile der Gruppe APT 28 zugeordnet, die vom russischen Militärgeheimdienst GRU gesteuert wird.
Darüber hinaus verbreiten staatliche und staatsnahe Akteure auf vielen Kanälen intensiv und umfassend russische Propaganda und Desinformation und Fake News.
Nach dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober hatte im vergangenen Jahr ein weiterer Konflikt jenseits unserer Grenzen unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland. Pro-palästinensische Gruppierungen feierten diesen barbarischen Angriff. Es gab eine Vielzahl von Demonstrationen. Antisemitische und antiisraelische Straftaten sind sprunghaft und besorgniserregend angestiegen, gerade in Großstädten.
Die Gefährdung durch islamistischen Terrorismus in Deutschland hat sich seit dem terroristischen Angriff der HAMAS weiter erhöht. Die Zahlen hat Frau Ministerin bereits genannt. Bedrohungen können sowohl von jihadistischen Einzeltätern als auch von Kleingruppen ausgehen. Aber auch groß angelegte, koordinierte Terroranschläge, wie zuletzt in Moskau, sind ein mögliches Szenario.
Der terroristische Angriff auf Israel hat in unserem Land nicht nur zu antisemitischen und israelfeindlichen Reaktionen in den Bereichen Islamismus und auslandsbezogener Extremismus geführt. Auch deutsche Links- und Rechtsextremisten haben sich zu diesem Konflikt positioniert. Die linksextremistische Szene ist gespalten: teils pro-israelisch, überwiegend aber pro-palästinensisch. Rechtsextremisten nutzen den Konflikt für ihre Zwecke und stellen unter anderem mögliche Migrationsbewegungen aus der Region nach Deutschland besonders heraus.
Damit möchte ich überleiten zu den Entwicklungen in der rechtsextremistischen Szene:
- Das Personenpotenzial der Rechtsextremisten ist erneut um 4,6 % gestiegen auf jetzt 40.600.
- 14.500 von ihnen sind gewaltorientiert – ebenfalls eine Steigerung von 3,6 %.
- Die Zahl der Straftaten ist um 22,4 % auf 25.660 gestiegen.
- Die Zahl der Gewalttaten ist um 13 % auf 1.148 gestiegen, davon 1016 Körperverletzungsdelikte (ca. 90 %).
- Dabei gab es vier versuchte Tötungsdelikte.
- Die Zahl rechtsextremistischer Demonstrationen ist deutlich um 153 % gestiegen auf 307 gegenüber 145 im Vorjahr. Zentrale Themen dieser Demonstrationen waren „Anti-Asyl“ und Migration.
- Rechtsextremistische Musikveranstaltungen sind auf einen Höchststand gestiegen.
- Dagegen konnten wir rechtsextremistische Kampfsportveranstaltungen verhindern.
Im Bereich der Neuen Rechten haben wir im Berichtsjahr den Verein „Ein Prozent“ und das „Institut für Staatspolitik“ nach sorgfältiger Prüfung als gesichert rechtsextremistische Bestrebungen eingestuft.
Seit diesem Monat ist auch der „Verlag Antaios“ gesichert rechtsextremistisch.
Damit haben wir in den vergangenen Jahren sukzessive die relevanten Akteure der Neuen Rechten in den Blick genommen, aufgeklärt und nach ergebnisoffener Prüfung zu erwiesen rechtsextremistischen Beobachtungsobjekten erklärt.
Dazu gehören auch die Identitäre Bewegung Deutschland und das Compact Magazin.
Wir erkennen zudem, dass sich die Akteure der Neuen Rechten weiter miteinander vernetzen und versuchen, Kontakte ins bürgerliche Spektrum zu knüpfen. Das Vernetzungstreffen Ende November 2023 in Potsdam ist ein medial vielbeachtetes Beispiel hierfür. Vor solchen Entgrenzungstendenzen warnen wir bereits seit Längerem.
Wir merken schon jetzt, dass sich teilweise der gesellschaftliche Diskurs verschiebt von der sachlichen Auseinandersetzung zur aggressiven Konfrontation. Und dies gilt für alle Phänomenbereiche: die wiederholten Angriffe auf Politikerinnen und Politiker in der letzten Zeit sind ein Symptom hierfür.
Nach wie vor existieren gefestigte Verbindungen zwischen der Neuen Rechten und zahlreichen Funktionären und Mandatsträgern des rechtsextremistischen Verdachtsfalls Alternative für Deutschland. Diese Einstufung der Alternative für Deutschland als Verdachtsfall hat das Oberverwaltungsgericht Münster vor etwas mehr als einem Monat für rechtmäßig erklärt. Damit wurde die unvoreingenommene Arbeit des BfV gerichtlich bestätigt – ein weiteres Mal!
Unser besonderes Augenmerk verdienen auch die aktuellen Entwicklungen im Linksextremismus. Die Zahl der Linksextremisten ist erneut gestiegen, wir gehen von einem Personenpotenzial von 37.000 Personen aus; davon sind 11.200 gewaltorientierte Linksextremisten. Das Gefährdungspotenzial, das von linksextremistischen Gewalttätern ausgeht, ist unvermindert hoch. Untermauert wird das durch einen Anstieg der linksextremistischen Straftaten um 10,4 % auf 4.248 und einen Anstieg der Gewalttaten um mehr als 20 % auf 727. Im Zielspektrum von Linksextremisten sind vor allem unsere Polizei, tatsächliche oder als solche ausgemachte Rechtsextremisten und Unternehmen.
Gewaltorientierte Linksextremisten begehen regelmäßig Brandanschläge, Sachbeschädigungen und Sabotage gegen Wirtschaftsunternehmen oder Kritische Infrastruktur. Damit verursachen sie jedes Jahr Schäden in mehrstelliger Millionenhöhe. Begründet werden die Taten mit Schlagworten wie „Antimilitarismus“ oder „Antirepression“. Regelmäßig wird auch das Thema „Klimaschutz“ als Grund genannt. Linksextremisten wollen so eine militante Komponente in der Klimaprotestbewegung hineintragen und etablieren. Der linksextremistische Brandanschlag auf die Stromversorgung des Tesla-Werkes ist ein prominentes Beispiel mit Millionenschaden. Er zeigt auch, dass die Täter spürbare Folgen für zahlreiche Anwohner und weitere Unternehmen in Berlin und Brandenburg billigend in Kauf nehmen.
Meine Damen und Herren, der aktuelle Verfassungsschutzbericht umfasst über 400 Seiten. Dieses beachtliche Volumen ist ein Beleg für die enorme Arbeitsbelastung in allen Aufgabenbereichen des BfV und es ist ein Fingerzeig auf das Ausmaß der Bedrohungen durch Extremismus, Terrorismus, Spionage, Sabotage oder Desinformation. Diesen Bedrohungen muss sich unsere Gesellschaft wehrhaft stellen.
Die hochmotivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz werden dabei auch in Zukunft ihren unverzichtbaren Beitrag leisten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!